Amoklauf in München Amok im Kopf

München · Neben der Trauer um die Opfer beschäftigt nach der Bluttat vor allem die Frage: Wer war David S.? Erste Antworten deuten auf einen psychisch kranken jungen Mann, umgeben von Literatur zu Amokläufen

Es ist ein furchtbares Porträt, das Münchner Ermittler zusammenfügen wie ein Puzzle. Enthüllen soll es Antlitz und Seele eines 18-jährigen Schülers, der am Freitag gegen 18 Uhr acht ungefähr Gleichaltrige und eine 45-jährige Frau im Nordwesten Münchens in einem McDonald's-Restaurant, auf der Straße davor und in einem angrenzenden Einkaufszentrum erschossen hat. Drei Schwerverletzte schwebten am Sonntag noch in Lebensgefahr.

Hubertus Andrä beginnt mit gesicherten Fakten. „Er war eindeutig Einzeltäter“, sagt Münchens Polizeipräsident über den jungen Mann, der als Ali David S. identifiziert wurde. „Kein IS-Hintergrund“, betont der Präsident des bayerischen Landeskriminalamts, Robert Heimberger. „Wir gehen von einem klassischen Amoktäter aus ohne jeden politischen Hintergrund aus“ präzisiert Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch. Ermittelt werde wegen mehrfachen Mordes. Der Rahmen des Puzzles steht.

Statt IS-Bezügen findet sich im Zimmer und auf den Datenträgern des Amokläufers aus München aber allerlei anderweitig besorgniserregendes. Zeitungsausschnitte zu Amokläufen und Polizeieinsätzen, ein Buch von Peter Langman mit dem Titel „Amok im Kopf: warum Schüler töten“. Mit dem Thema Amok hat sich der 18-Jährige intensiv und lange beschäftigt, ist den Ermittlern schnell klar. Aber offenbar im Stillen und Geheimen. Gewusst hat davon offenbar niemand.

Ob auch seine Eltern, bei denen er im Münchner Stadtteil Maxvorstadt zusammen mit seinem Bruder gewohnt hat, ahnungslos waren, ist noch ungewiss. Die Mutter ist Verkäuferin, der Vater Taxifahrer. Der Schüler, der sich nach seinen Taten selbst mit einem Kopfschuss hingerichtet hat, war Deutsch-Iraner mit doppelter Staatsbürgerschaft. Er ist in München nicht nur in die Mittelschule gegangen, sondern er wurde in der Isarmetropole auch geboren. „Ich bin Deutscher“, ruft er auf dem Handy-Video, das ein Anwohner am Ort des Blutbads im Münchner Norden etwa sechs Kilometer entfernt von der elterlichen Wohnung aufgenommen hat. Darin sagt der Täter auch, dass er in einer Hartz IV-Umgebung aufgewachsen ist und in stationärer Behandlung war.

Bei der Wohnungsdurchsuchung seien Unterlagen über eine psychische Erkrankung des Amokläufers gefunden worden, bestätigen Landespolizei und Staatsanwaltschaft am Sonntagnachmittag. Der Schüler sei zwei Monate in stationärer Behandlung gewesen, habe unter „sozialen Phobien“ und Depressionen gelitten. Ob der Amokläufer von München bei seiner Tat unter Einfluss von Drogen, Medikamenten oder Alkohol stand, ist noch unklar. Depressive Menschen sind oft selbstmordgefährdet, sagen Fachärzte. Sie kennen aber auch den Begriff des erweiterten Suizids, wo zusätzlich andere mit in den Tod gerissen werden. Nun nimmt auch die Psyche des Todesschützen langsam Konturen an. Dazu kommen Indizien.

Es könne kaum ein Zufall sein, dass die Bluttat in München am fünften Jahrestag der Massenmorde des norwegischen Amokläufers Anders Behring Breivik geschehen ist, hatte Andrä schon früh gemutmaßt. Tatsächlich hatte David S. Recherchen zur Tat Breiviks angestellt und wie der Norweger ein schriftliches Manifest verfasst, wie LKA-Chef Heimberger am Sonntag erklärte. Seit einem Jahr habe er sich auf die Tat vorbereitet.

Seine Opfer, die allesamt in München oder Umgebung gemeldet und überwiegend einen Migrationshintergrund hatten, sucht er sich nach den Erkenntnissen der Ermittler nicht gezielt aus. Die Gegend, in der Ali David S. gemordet hat ist allerdings stark von Münchnern mit ausländischen Wurzeln bewohnt. „Die Leute waren halt da“, vermutet ein Ermittler.

Mit seiner Pistole – eine österreichische Präzisionspistole der Marke Glock – gab der Amokläufer mindesten 57 Schüsse ab, so die Ermittler. Über 300 Schuss Munition waren noch im Rucksack des Täters, nachdem dieser um sich geschossen und neun Menschen sowie anschließend sich selbst getötet hatte. Aus der illegalen Waffe war die Seriennummer herausgefeilt worden. Laut Heimberger hat der Täter die Waffe in einem anonymen Bereich des Internets gekauft: „Es gibt einen Chatverlauf im Darknet, der darauf schließen lässt, dass er sich diese Waffe im Darknet besorgt hat“.

Nachbarn beschreiben den Todesschützen als unauffällig, freundlich, ruhig. Das klingt eher positiv. Andere nennen ihn scheu und verschlossen, in sich gekehrt. Er habe wenig Freunde gehabt, sei in der Schule schlecht gewesen und dort auch gemobbt worden, was ihn zum Außenseiter gemacht habe. Um sich etwas Geld zu verdienen, habe er Zeitungen ausgetragen. Geld für eine Glock-Pistole, muss man nun annehmen. Von seinen Amokfantasien weiß auch in seinem Wohnumfeld niemand etwas. Allerdings bestätigte die Polizei am Sonntag, dass er intensiv gewaltverherrlichende Videospiele spielte.

Bestätigt wurde auch, dass er ein Facebook-Profil geknackt hat und kurz vor seiner Tat unter fremdem Namen zur McDonald's-Filiale am Olympia-Einkaufszentrum eingeladen hat, um eine Runde zu spendieren. Ob er damit zusätzliche Opfer anlocken wollte, ist eine von vielen noch offenen Fragen.

Polizeilich auffällig war der Amokläufer von München bis zu seiner Tat jedenfalls nicht. Als zwölfjähriger war er einmal selbst Opfer eines Diebstahls und als 14-jähriger auch Opfer einer Auseinandersetzung mit anderen Jugendlichen. Mehr gibt die Polizeistatistik nicht her.

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