Hinrichtung am Straßenrand Als die RAF Hanns Martin Schleyer entführte

Vor 40 Jahren, am 5. September 1977, wird Hanns Martin Schleyer in Köln entführt. Es folgen sechs hochdramatische Wochen, die als „Deutscher Herbst“ in die Geschichte eingehen. Ein Blick zurück - auch ins GA-Archiv.

Der Deutsche Herbst beginnt im April. „Offensive '77“, so hat die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) das blutige Jahr überschrieben. Die Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zweier Begleiter am 7. April 1977 dekretieren die Terroristen zynisch als „Hinrichtung“. Ihr eigentliches Ziel aber erreichen sie nicht: die Freipressung von elf inhaftierten Gesinnungsgenossen, darunter die in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Anführer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Am Ende des Jahres allerdings wird Buback nicht das letzte Opfer gewesen sein.

Rückblende. Deutschland, Frühling 1967. Die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Revolution geht in Teilen der politischen Linken so weit, dass auch Gewalt als Mittel nicht mehr ausgeschlossen wird – zunächst gegen Sachen, bald aber auch gegen Menschen. Die bisherige Publizistin Ulrike Meinhof hebt in einem Interview mit der französischen Journalistin Michèle Ray hervor: „Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen (…) und natürlich kann geschossen werden!“

Den Worten folgen Taten. Mit einer Serie von Banküberfällen verschafft sich die Gruppe Liquidität – und erhöht die Schlagzahl. Nach der Verhaftung des Rechtsanwalts Horst Mahler, neben Ulrike Meinhof der eigentliche Kopf der RAF, übernimmt Andreas Baader die Führung. Mehrere Großfahndungen münden in Schießereien, bei denen Polizisten getötet werden. Im Mai 1972 erreicht der Terror eine bis dato in Deutschland ungekannte Dimension.

Hafterleichterungen für die Häftlinge

Doch auch die Strafverfolgungsbehörden erzielen Erfolge: Bei der größten Ringfahndung in der Geschichte der Bundesrepublik werden im Juni 1972 Baader, Meinhof, Holger Meins und Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin sowie zahlreiche weitere Unterstützer der Terroristen verhaftet. Als Anfang 1975 der Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz entführt wird, gibt die Bundesanwaltschaft den Forderungen der Entführer nach, Lorenz wird freigelassen.

Die RAF-Häftlinge erfreuen sich erheblicher Hafterleichterungen, doch der Terror geht weiter. Etwa am 25. April 1975, als ein „Kommando Holger Meins“ die deutsche Botschaft in Stockholm besetzt. Die Befreiung der Geiseln fordert drei Todesopfer und mehrere Schwerverletzte. Am 9. Mai 1976 begeht Ulrike Meinhof im Gefängnis Selbstmord – nach RAF-Interpretation ein „Mord im staatlichen Auftrag“, der „gerächt“ werden müsse.

RAF-Terror in Bonn und der Region
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Nach dem Mord an Buback wird am 30. Juli 1977 bei einer missglückten Geiselnahme durch Brigitte Mohnhaupt, Susanne Albrecht und Christian Klar der Bankier Jürgen Ponto erschossen. Aus der weiten, quicklebendigen Sympathisantenszene ertönt Applaus: In einer Göttinger AStA-Zeitung teilt Autor „Mescalero“ mit, dass er angesichts der Ermordung Bubacks „klammheimliche Freude“ verspüre.

Ein Jahr danach schreibt der spätere Bundesaußenminister Joschka Fischer in der Frankfurter Sponti-Zeitung „Pflasterstrand“: „Bei den hohen Herren mag mir keine rechte Trauer aufkommen, das sag ich ganz offen.“ Und in der französischen Tageszeitung „Le Monde“ bezeichnet der Schriftsteller Jean Genet drei Tage vor der Entführung Schleyers den RAF-Terrorismus als notwendige Gewalt zur Überwindung des „brutalen faschistischen Deutschlands“.

Polizisten in Lebensgefahr

Um die elf RAFler freizupressen, ist zu diesem Zeitpunkt längst auch Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer ins Visier der Terroristen geraten. Seit Frühjahr 1977 reifen die Pläne, was auch den Sicherheitsbehörden nicht entgeht. So gilt für den 62-Jährigen seit dem 2. August die höchste Sicherheitsstufe. Beinahe wären Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz am 3. September aufgeflogen, als sie am Raderthalgürtel die Fahrtstrecke Schleyers auskundschaften: Einem Anwohner kommen sie verdächtig vor.

Gegenüber der alarmierten Polizei geben die beiden jungen Frauen eine Autopanne vor. Ohne deren Personalien zu überprüfen, bringen die Beamten sie in die nächstgelegene Werkstatt. Die Polizisten ahnen nicht, dass sie sich in Lebensgefahr befanden, denn in einem grauen Mercedes folgen ihnen vier weitere RAF-Mitglieder – schwer bewaffnet und zu allem entschlossen.

Am späten Nachmittag des 5. September lauert das Terrorkommando „Siegfried Hausner“ Schleyers Dienstwagen auf. Schleyer – als Daimler-Manager und ehemaliger Angehöriger der SS ein Paradefeindbild der Linksterroristen – ist in seinem Mercedes 450 SEL mit dem Kennzeichen K-VN 345 auf der Fahrt zu seiner Wohnung an der Raschdorffstraße 10 in Braunsfeld. Am Steuer sitzt Fahrer Heinz Marcisz (41), in einem Polizeifahrzeug folgen die Personenschützer Reinhold Brändle (41), Roland Pieler (20) und Helmut Ulmer (24).

Gegen 17.25 Uhr biegen die beiden Wagen in die Vincenz-Statz-Straße ein, als es passiert: Halb auf der Straße steht quer ein gelber Mercedes, daneben liegt ein blauer Kinderwagen. Marcisz muss scharf bremsen, das Begleitfahrzeug fährt auf Schleyers ungepanzerte Limousine auf. In diesem Augenblick rennen von links mehrere Personen auf die Fahrzeuge zu: Peter-Jürgen Boock, Sieglinde Hofmann, Willy Peter Stoll und Stefan Wisniewski. Sofort eröffnen sie das Feuer und töten mit gezielten Schüssen den Fahrer und die drei Polizeibeamten.

119 Schüsse in eineinhalb Minuten

Insgesamt fallen in ungefähr eineinhalb Minuten mindestens 119 Schüsse. Mehrfach getroffen, erliegt Marcisz seinen schweren inneren Verletzungen. Noch stärker konzentrieren die Täter ihren Angriff auf das Begleitfahrzeug. Brändle wird 60 Mal getroffen und stirbt kurz darauf. Ulmer und Pieler gelingt es noch, den Wagen zu verlassen und elfmal zurückzuschießen, ohne jedoch zu treffen. Ein Mann zerrt Schleyer aus dem Wagen und schleppt ihn mit Hilfe eines anderen Täters in einen weißen VW-Bus, der an der Ecke zur Friedrich-Schmidt-Straße wartet. Die übrigen Täter springen ebenfalls in den Bus.

Nach Wechsel des Fluchtfahrzeugs in einer Tiefgarage schaffen die Terroristen ihre Geisel in ein Hochhaus in Erftstadt-Liblar, wo sie eine konspirative Wohnung angemietet haben. Als Ergebnis der neuartigen Rasterfahndung spucken die BKA-Computer schon 48 Stunden nach der Entführung die Adresse des Hauses „Zum Renngraben“ aus – doch die Information geht im Daten- und Kompetenz-Wirrwarr unter.

In einem mit Schaumgummi ausgekofferten Wandschrank wird Schleyer gezwungen, per Videobotschaften an die Bundesregierung seinen Austausch gegen elf inhaftierte RAF-Mitglieder zu fordern. In Bonn, das sich in eine Festung verwandelt, berät mehrfach täglich die „Kleine Lage“. Über das Radio lässt das BKA den Entführern Nachrichten zukommen. Ultimatum um Ultimatum verstreicht.

Während sich ein sechswöchiger Nervenkrieg anbahnt, entwickelt sich auf politischer Bühne ein Konsens zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) und Oppositionsführer Helmut Kohl (CDU), der übrigens ein enger Freund Schleyers ist: Auf Zeit spielen, die Geisel retten, die Täter fassen. Und, so lehre die Lorenz-Entführung: Der Staat muss Flagge zeigen und darf nicht erpressbar sein.

"Ich habe nie um mein Leben gewinselt"

In einer an Kohl persönlich gerichteten Tonbandnachricht sagt Schleyer: „Ich habe nie um mein Leben gewinselt. Ich habe immer die Entscheidung der Bundesregierung (…) anerkannt. Was sich aber seit Tagen abspielt, ist Menschenquälerei.“ Später wehrt sich Helmut Schmidt vehement gegen den Vorwurf, er habe Schleyer „der Staatsräson geopfert“. Denn, so Schmidt: Wären die Terroristen freigelassen worden, hätten sie neue Anschläge begangen und weitere Menschenleben gefährdet.

So lehnt es der Kanzler ab, mit den Terroristen zu verhandeln. Die legen nach: Am 13. Oktober 1977 entführen vier palästinensische Terroristen die Lufthansa-Boeing 737 „Landshut“ auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt und erschießen den Piloten. Auch sie fordern die Freilassung der RAF-Häftlinge. Schleyers Sohn scheitert mit einem Eil-Antrag vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel der Freilassung der Inhaftierten.

Vier Tage später dringt eine Spezialeinheit der GSG 9 am Flughafen von Mogadischu in die „Landshut“ ein und überwältigt die Täter. Noch am gleichen Tag wird Schleyer von seinen Entführern im elsässischen Mülhausen ermordet. Im Bekennerschreiben der RAF heißt es: „Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet“.

Baader, Raspe und Ensslin töten sich im Gefängnis selbst. Von den verbliebenen Terroristen der RAF-Anfangsjahre finden viele eine neue Heimat: in der DDR, die sie mit neuen Identitäten versieht und deren Stasi die RAF auch anderweitig unterstützt. Erst am 20. April 1998 gibt die Terrororganisation die Auflösung bekannt. Ihre Blutspur nach 28 Jahren ist lang: Mehr als 35 Morde gehen auf ihr Konto.

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