Interview mit Präsident der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg „Wir sind die Hüter der Wahrheit“

Rhein-Sieg-Kreis · Die Wissenschaft darf es sich nicht im Elfenbeinturm bequem machen. Sie muss gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und Flagge zeigen für die Demokratie. Das fordert Professor Hartmut Ihne, Präsident der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.

Der aktuelle Jahresbericht der Hochschule Bonn/Rhein-Sieg trägt das Motto „Wagen“. Das erinnert an den Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ aus der ersten Regierungserklärung Willy Brandts 1969. Ein Zufall?

Hartmut Ihne: Das Thema „Wagen“ ist tatsächlich von diesem Zitat Brandts inspiriert, weil es sehr eindrücklich war und sehr stark gewirkt hat: Demokratie ist immer ein Wagnis. Man muss die Dinge in die Hand nehmen, Widerstände überwinden und aushalten, Mut haben. Willy Brandt hat innen- und außenpolitisch Mut bewiesen, die Gesellschaft zu modernisieren und die Ostpolitik voranzutreiben. Der Mauerfall von 1989 ist Ergebnis dieser mutigen Grundhaltung.

Der Mauerfall liegt 28 Jahre zurück. Wo müssen wir heute etwas wagen?

Ihne: Die Welt ist heute komplexer als damals. Wir sprechen von der Globalisierung, von alten und neuen Interdependenzen im Weltmaßstab. Wir wissen, dass kein Staat alleine für sich existieren kann. Wir brauchen Staatenbündnisse, um die großen Herausforderungen zu meistern. Wir verstehen diese Verhältnisse oft nicht mehr, aber wir müssen versuchen, sie anzunehmen, aufzulösen und zu entschlüsseln. Die Komplexität der Welt macht es Verführern leicht, sie zu missbrauchen, Ängste zu schüren und den Menschen Lügen zu erzählen.

Muss uns wieder mehr bewusst werden, was Demokratie bedeutet?

Ihne: Absolut. Wir sind zu sehr daran gewöhnt, dass wir in Europa in demokratischen Verhältnissen leben. Es wird zum Beispiel viel über die EU genörgelt, über Verordnungen zu Gurken oder Staubsaugern. Dabei wird oft vergessen, dass dieses Europa die größte kulturelle Leistung der Menschheit überhaupt ist. Wir leben seit Jahrzehnten in Frieden, haben Grenzen abgeschafft, einen Rechts-, Wirtschafts-, Währungs-, Politik- und Wissenschaftsraum geschaffen. Das ist doch sensationell. Nur vergisst man leicht, dass sich dieser Zustand auch wieder ändern kann.

Wo sehen Sie Gefahren?

Ihne: In der Passivität. Der Anteil derer, die sich über die Wahlen hinaus politisch einbringen, liegt in Deutschland unter zehn Prozent. Und auch an den Wahlen beteiligen sich längst nicht alle. Viele haben ein konsumistisches Verhältnis zur Demokratie. Man erfreut sich der kleinen Freiheiten – Job, Auto, Reisen – vergisst dabei aber die großen Freiheiten, die das alles möglich machen. Ist denn jedem bewusst, dass die Menschenrechte Basis von allem sind? Sind wir noch bereit, die großen Ideale der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – zu verteidigen? Ich habe da manchmal so meine Zweifel. Wir brauchen Menschen, die Demokratie leben, die sich einbringen, die gestalten und die offene Gesellschaft weiterentwickeln. Wählen zu gehen, ist nur ein Minimum. Nicht zu wählen, ist keine Haltung.

Welche Rolle kommt der Wissenschaft zu?

Ihne: Ich sprach eingangs von der Komplexität der Welt. Sie zu verstehen und zu erklären, ist Aufgabe und Verpflichtung der Wissenschaft – ob es nun um globale Finanzmärkte, den Klimawandel, Migration, soziale Sicherheit oder die Digitalisierung geht. Die Wissenschaft darf sich nie in den Elfenbeinturm zurückziehen, sie muss diese Prozesse begleiten und ihre Erkenntnisse wirksamer kommunizieren als bislang. Und sie muss die Gesellschaft darin unterstützen, ihre Lebensverhältnisse gut zu gestalten.

Inwieweit ist die Wissenschaft gegen Instrumentalisierbarkeit und Postfaktizität gerüstet?

Ihne: Dass die Wissenschaft sensibel auf politische Einflussnahme oder Abwertung freier Forschung reagiert, zeigt sich etwa beim „March For Science“. Diese globale Bewegung kommt aus den USA. Auch bei uns in Deutschland sind Wissenschaftler auf die Straße gegangen, um ihre Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft zu unterstreichen. Es ist sehr wichtig, Flagge zu zeigen, denn die Wissenschaft gründet auf Logik und Fakten und ist – das mag pathetisch klingen – Hüterin der Wahrheit. Natürlich kennen wir die alte Debatte darüber, inwieweit Wissenschaft neutral oder interessengeleitet ist. Und natürlich können wissenschaftliche Methoden missbraucht werden, um spezielle ökonomische, politische oder sonstige Interessen zu rechtfertigen. Aber: Gute Wissenschaft findet so etwas heraus. Sie hat die nötigen analytischen Instrumente und hinterfragt sich permanent. Gute Wissenschaft folgt mindestens zwei klassischen Grundregeln. Erstens: Das, was ich behaupte, muss logisch ableitbar sein. Zweitens: Die grundlegenden Tatsachen müssen im Experiment überprüfbar sein. Wissenschaft behauptet also nicht nur etwas, sondern sie begründet auch – und zwar so, dass es argumentativ nachvollziehbar ist. Und genau das macht sie so wertvoll für unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurse und den Kampf gegen die Verwirrung des Denkens.

Inwieweit will die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg Verantwortung für Gesellschaft und Demokratie übernehmen?

Ihne: Durch verschiedene Ansätze. Zum Beispiel durch unser Forum Verantwortung, ein neuartiges Diskursforum zur Verantwortung der Wissenschaft. Wir werden im Rahmen der 'Innovativen Hochschule' weitere Formate entwickeln, um die Verantwortung der Wissenschaft für die Menschen und die Entwicklung der Gesellschaft durchzudeklinieren. Da machen wir schon einiges, aber es ist noch Luft nach oben. Natürlich führen wir auch unsere eigenen Leute, ob neue Wissenschaftler oder Studierende, an diese Themen heran und sensibilisieren sie für Ethik. Dabei geht es immer auch um den gewissenhaften Umgang mit wissenschaftlicher Erkenntnis und um die Konsequenzen des eigenen Tuns für heutige und künftige Generationen.

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