Interview mit Bonner Migrationsforscher „Wir müssen den Radikalen die Argumente wegnehmen“

Bonn · Der Migrationsforscher Hidir Çelik spricht im Interview über Zuwanderung, Obergrenzen und Fehler in der Wohnungsbaupolitik und was Integration von beiden Seiten fordert, damit sie gelingen kann.

 Hidir Çelik ist Leiter der Migrations- und Flüchtlingsarbeit des Evangelischen Kirchenkreises Bonn und Vorsitzender des Bonner Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelles Lernen.

Hidir Çelik ist Leiter der Migrations- und Flüchtlingsarbeit des Evangelischen Kirchenkreises Bonn und Vorsitzender des Bonner Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelles Lernen.

Foto: Andreas Dyck

Deutschland steht vor der Aufgabe, Hunderttausende Menschen zu integrieren. Was ist Integration überhaupt?

Hidir Çelik: Zunächst ist es ein abstraktes Wort, unter dem jeder etwas anderes versteht. Nehmen Sie meine Mutter. Die weiß so wenig wie ihre deutsche Nachbarin, mit dem Begriff etwas anzufangen. Trotzdem spüren beide sehr genau, ob das Miteinander friedlich abläuft oder nicht.

Haben wir denn ein Miteinander oder ist es eher ein Nebeneinander?

Çelik: Wir haben beides gleichzeitig. Es gibt ein Miteinander, wo Menschen zu Freunden oder guten Nachbarn werden. Es gibt aber auch Parallelgesellschaften in unserem Land – und zwar auf beiden Seiten. Es gibt sowohl Zuwanderer als auch Deutsche, die lieber unter sich bleiben und das Fremde nicht zu sich hineinlassen.

Sie meinen, auch die Deutschen müssen sich integrieren?

Çelik: Ich meine, Integration ist keine Einbahnstraße. Sie verläuft in beide Richtungen. Die Menschen kommen nicht hierher und legen ihre Kultur vorher ab. Deshalb müssen beide Seiten lernen, mit den Unterschieden und der Andersartigkeit der jeweils anderen Seite zu leben. Das verändert ein Land. Die Aufgabe der Politik ist, diese Veränderung positiv zu gestalten, sowohl gesellschaftspolitisch als auch sozialpolitisch.

Was braucht es, damit das gelingt?

Çelik: Dazu müssen sich beide Seiten auf Augenhöhe begegnen. Die Neuankömmlinge müssen unsere Sprache lernen und die Werte unseres Zusammenlebens akzeptieren. Im Gegenzug haben sie ein Recht auf alle Bereiche des Lebens, vor allem einen Zugang zu Bildung und Arbeit.

In der Vergangenheit hat Deutschland sich mit Integration schwer getan. Warum?

Çelik: Bis in die Achtziger Jahre ist man davon ausgegangen, dass die Gastarbeiter wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Erst seit 2005 gibt es politisch einen Konsens, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Dementsprechend hat man sich nicht bemüht, sich auf ein langfristiges Zusammenleben mit den Neuen einzustellen. Aber viele von ihnen sind geblieben. Viele Fehler wurden in der Wohnungs- und Sozialpolitik gemacht. Dadurch haben wir heute Stadtteile, die zum Teil monokulturell geprägt sind. Strukturen, die Parallelgesellschaften ähneln, und teils gettoähnliche Zustände mancherorts sind eine Folge davon. Beispiele dafür sind Neu-Tannenbusch in Bonn oder Duisburg-Marxloh. Das legt den Nährboden für soziale und politische Probleme, wie zum Beispiel Jugendarbeitslosigkeit, Radikalisierung sowie Kriminalität und Gewalt.

Warum ist dieser Nährboden so fruchtbar?

Çelik: Wenn die Menschen nicht das Gefühl haben, Teil der Gesellschaft zu sein, werden sie empfänglich für alternative Botschaften. Extremisten profitieren davon. Vor allem junge Männer, die keine Perspektive in ihrem Leben und keinen Halt in der Mehrheitsgesellschaft finden, sind eine sehr leichte Beute für radikale Gruppierungen. Islamisten und Rechtsradikale nutzen das gleichermaßen aus. Wir müssen Jugendliche in solchen Stadtteilen durch gezielte Maßnahmen von dem Einfluss der radikalen Gruppierungen befreien. Wir müssen den Radikalen die Argumente wegnehmen, wenn Integration erfolgreich sein soll.

Wie kann das gelingen?

Çelik: Indem wir uns um die Abgehängten kümmern. Noch immer gehen aus unserer Gesellschaft zu viele Schulabbrecher hervor. Aufstiegschancen hängen zu sehr vom sozialen Hintergrund der Eltern ab. Wer hingegen das Gefühl hat, ein Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein, wird sich für diese auch einbringen. Sie sollen das Gefühl bekommen, dass Deutschland ihr Zuhause ist.

Seit den Vorfällen an Silvester 2015 in Köln scheint die Stimmung in Teilen der Gesellschaft zu kippen. Muss der Staat mehr Härte zeigen?

Çelik: Köln hat gezeigt, dass unvorbereitet die Zuwanderung so vieler Menschen wie im Jahr 2015 auch große Schwierigkeiten mit sich bringt. Der Staat muss hier bestehendes Recht konsequent anwenden. Dazu gehört es auch, Wiederholungstäter abzuschieben. Köln hat aber auch gezeigt, dass alte Vorurteile reflexhaft greifen. Das hat beide Seiten, Zuwanderer und Einheimische, im Umgang miteinander verunsichert.

Manche Menschen fragen sich, wie viele Zuwanderer das Land aufnehmen kann. Macht eine Obergrenze Sinn?

Çelik: Ich halte eine Obergrenze für realitätsfern, wenn die Menschen in ihrer Not vor der Tür stehen. Trotzdem glaube ich, dass unser Land nicht noch einmal so viele Menschen aufnehmen kann wie 2015. Das schaffen wir strukturell nicht noch einmal.

Was glauben Sie: Wie steht Deutschland in Sachen Integration in 30 Jahren da?

Çelik: Das hängt sehr stark davon ab, was aus Europa wird. Wenn es zerfällt und nationales Denken zunimmt, wirkt sich das auch auf das Zusammenleben aus. Auch deshalb sollte Deutschland Interesse an einem starken Europa haben. Ich glaube, Deutschland wird bunter als heute sein. Das Gefühl für ein Miteinander wird zunehmen.

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