Interview mit Verkehrsforscher „Das Autobahnnetz muss ausgebaut werden“

Bonn · Der Verkehrsforscher Justin Geistefeldt spricht im GA-Interview über Staus in NRW, die Zunahme des Schwerlastverkehrs, den Ausbau der Schiene und die Leverkusener Brücke.

400 Kilometer Stau in Nordrhein-Westfalen an einem Spätherbsttag, an „normalen Tagen“ sind es oft mehr als 200 Kilometer, nicht selten auch über 300. Brauchen wir mehr oder breitere Straßen?

Justin Geistefeldt: Der Spätherbst ist schon extrem, weil praktisch alle Pendler auf den Straßen sind und kaum jemand Urlaub macht. Gleichwohl muss das Autobahnnetz ausgebaut werden, insbesondere an den Knotenpunkten oder hoch belasteten Abschnitten wie dem Kölner Ring. Aber das wird nicht dazu führen, dass Staus in Nordrhein-Westfalen komplett verschwinden.

Hätte man in den vergangenen Jahrzehnten beherzter Autobahnen bauen müssen?

Geistefeldt: Die Weiterentwicklung des Straßennetzes konnte mit der Zunahme der Verkehrsnachfrage nicht ganz Schritt halten. Auch weil man auf sinnvolle Netzergänzungen aus verschiedenen Gründen verzichtet hat.

Zum Beispiel?

Geistefeldt: Im mittleren Ruhrgebiet fehlt etwa der lange geplante Lückenschluss der Autobahn A 52 in Essen. Das führt zu hohen Belastungen auf den bestehenden Nord-Süd-Verbindungen: Auf der B 224 im Essener Stadtgebiet, aber auch auf der A 3 westlich und der A 43 östlich von Essen.

Im Bonner Raum fehlt die angedachte West-Ost-Verbindung zwischen A 565 und A 3.

Geistefeldt: Wenn man vor Jahrzehnten die Planung umgesetzt hätte, würde man heute weniger Probleme auf der A 565 haben, weil es eine leistungsfähige Alternative im Süden von Bonn gäbe. So hat man an einigen Stellen in Nordrhein-Westfalen heute unvollständige Netze.

Die nicht mehr weiterverknüpft werden können.

Geistefeldt: Richtig. Denn heute stehen viele Flächen gar nicht mehr zur Verfügung. Zudem sind die Umweltauflagen deutlich erhöht worden. Die einzige Möglichkeit ist oft nur noch, bestehende Autobahnen zu erweitern. Das geht aber auch nicht immer, wenn zum Beispiel Wohngebiete direkt an der Trasse liegen.

Heißt das: Die Menschen in den Ballungsräumen an Rhein und Ruhr müssen sich mit dem Dauerstau abfinden?

Geistefeldt: Der Begriff Dauerstau gefällt mir nicht, weil der Stau ein Phänomen ist, das vor allem in Verkehrsspitzenzeiten auftritt. Es gibt noch Potenziale, dieses Stauaufkommen zu reduzieren.

Welche?

Geistefeldt: Die Auswirkungen von Baustellen und Unfällen so gering wie möglich zu halten, beispielsweise dadurch, dass Unfallstellen schneller geräumt werden. Bei Baumaßnahmen können besonders gravierende Auswirkungen auf den Verkehrsablauf vermieden werden, indem bei Dauerbaustellen leistungsfähige Verkehrsführungen gewählt und Tagesbaustellen in Schwachlastzeiten verschoben werden.

Das wird ja schon vielfach getan.

Geistefeldt: Manches aber noch nicht mit der nötigen Konsequenz. Ich sehe da noch Potenziale. Auch mit Streckenbeeinflussungsanlagen oder der zeitweisen Freigabe von Seitenstreifen kann der Verkehrsfluss verbessert werden. Anlagen für die temporäre Seitenstreifenfreigabe sind im Raum Köln auf der A 4 und der A 57 in Betrieb, weitere Strecken sollen folgen.

Wie wird sich denn der Straßenverkehr in der Zukunft entwickeln?

Geistefeldt: Der Pkw-Verkehr wird eher stagnieren, während der Schwerverkehr weiter relativ dynamisch zunimmt. In wirtschaftlich leistungsfähigen Ballungsgebieten wie Köln und Bonn wird es auf den Pendlerrouten auch bei den Pkw weiterhin leichte Zuwächse geben. Für andere Regionen, zum Beispiel das nördliche Ruhrgebiet, ist dagegen unter anderem aufgrund der demografischen Entwicklung eher mit Rückgängen zu rechnen. Das ist ein langfristiger Prozess, der bei der Ausbauplanung aber zu berücksichtigen ist.

Viele Brücken sind sanierungsbedürftig. Müssen außer der Leverkusener Brücke womöglich weitere gesperrt werden?

Geistefeldt: Als die Brücken vor 40 oder 50 Jahren gebaut worden sind, war noch nicht absehbar, welche Verkehrsbelastungen sie heute im Jahr aushalten müssen. Ich habe aber den Eindruck, dass die zügige Umsetzung notwendiger Brückensanierungen nicht am Geld scheitern wird. Das macht sich auch darin bemerkbar, dass im neuen Bundesverkehrswegeplan Erhaltungsmaßnahmen Priorität vor kostspieligen Neubauprojekten haben. Eher schon sind die langwierigen Planungs- und Genehmigungsprozesse ein Problem.

Wie meinen Sie das?

Geistefeldt: Es ist nicht akzeptabel, dass es in Deutschland rund zehn Jahre dauert, bis ein marodes Bauwerk wie die Rheinbrücke Leverkusen ersetzt worden ist. Bei Neubauprojekten finde ich es in Ordnung, dass Anwohner Einspruchsmöglichkeiten haben, aber hier reden wir darüber, dass eine hoch belastete Autobahn dringend erneuert werden muss.

Sehen Sie für das Land Möglichkeiten, mit anderen Verkehrssystemen wie der Schiene oder dem Radverkehr den Autoverkehr wieder schneller fließen zu lassen?

Geistefeldt: Der Ausbau anderer Verkehrssysteme ist zwar sinnvoll, wird die Probleme auf der Straße aber nicht lösen. Selbst eine Verdopplung des Schienengüterverkehrs würde nur zu einer Verringerung des Lkw-Verkehrs auf der Straße um wenige Prozent führen. Auch der Bau des Rhein-Ruhr-Express RRX oder die Einrichtung von Radschnellwegen sind sinnvoll, werden aber allein die Staus auf den Autobahnen nicht beseitigen.

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