Handlungsfähigkeit der Bundeswehr „Dann muss die Flotte im Hafen bleiben“

Berlin · Viele Soldaten schieben so viele Überstunden, dass die Handlungsfähigkeit der Truppe infrage steht. Was Verteidigungsminister Ursula von der Leyen dagegen unternehmen will, ist offen.

 Besuch bei der Marine: Ursula von der Leyen mit Jens Grimm, Kommandeur des 1. U-Bootgeschwaders, in Eckernförde.

Besuch bei der Marine: Ursula von der Leyen mit Jens Grimm, Kommandeur des 1. U-Bootgeschwaders, in Eckernförde.

Foto: dpa

In einigen Bereichen der Bundeswehr sind seit Jahresbeginn so viele Überstunden angefallen, dass einzelne Einheiten mittlerweise am Rand ihrer Funktionsfähigkeit stehen. Als Brennpunkte dieser Entwicklung werden in gut informierten Kreisen unter anderen die gesamte Marine, das Bundeswehrkrankenhaus in Ulm, die Ausbildungsmannschaften im Gefechtsübungszentrum in Letzlingen und die Soldaten genannt, die zur Flüchtlingshilfe abkommandiert waren.

„Wenn die Marinesoldaten ihre Überstunden nicht ausbezahlt bekommen, sondern abbummeln müssen, kann die Marine von Herbst an ihre Schiffe nicht mehr bemannen“, erklärt ein Insider. „Durch die laufenden Einsätze haben sich so viele Überstunden angestaut, dass die Besatzungen bis zum Jahresende Urlaub anmelden können. Dann müsste die Flotte allerdings im Hafen bleiben.“

Zahlen, die den Überstundenberg quantifizieren, gibt es nicht. Aber die Dimension des Problems wird in Berlin von vielen Quellen bestätigt. „Das Thema Überstunden beschäftigt viele Soldaten“, erklärt der Vizevorsitzende des Bundeswehrverbandes Andreas Steinmetz. „Seit Beginn dieses Jahres haben sich viele Kameraden bei uns erkundigt, welche Möglichkeiten sie im Umgang mit ihrem wachsenden Überstundenkonto haben.

Sie wollen vor allem wissen, unter welchen Bedingungen Überstunden finanziell abgegolten werden können, und wann bereits geleistete Mehrarbeit abgebummelt werden muss“, fügt er hinzu.

Der Hinweis auf den Jahresbeginn ist wichtig. Denn seit dem 1. Januar 2016 wird auch bei der Bundeswehr die Europäische Arbeitszeitrichtlinie umgesetzt; das ist ein Teil des Attraktivitätsprogramms, das Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf den Weg gebracht hat. Seither gilt auch für Soldaten im Grundbetrieb der Bundeswehr eine regelmäßige Arbeitszeit von 41 Wochenstunden. Vorher lag die Obergrenze für den Dienstplan bei 46 Stunden. Wird die Marke überschritten, müssen die Überstunden entweder abgebaut – was laut Gesetz Vorrang hat – oder finanziell abgegolten werden.

Die Materie ist kompliziert. Tatsächlich haben Soldaten in vom Bundestag mandatierten Auslandseinsätzen keinen Anspruch auf Überstundenausgleich; diese Zusatzbelastung gilt durch den Auslandszuschlag als abgegolten. Im Normalbetrieb besteht die Pflicht zur Kompensation. Dass es dabei nicht um Peanuts geht, macht ein Blick in die Vergangenheit deutlich.

Die Unternehmensberatung KPMG bezifferte die Mehrarbeit in der Bundeswehr im Jahr 2013 (also noch vor der Begrenzung der Wochenarbeitszeit auf 41 Stunden) auf 1,1 Millionen Überstunden – pro Monat. Ohne die schwimmenden Marineeinheiten ergab sich laut KPMG ein wöchentlicher Überstundenanfall von 270.000.

Die „schwimmenden Einheiten“ der Marine sind besonders betroffen. Denn die vier stehenden Nato-Verbände sind keine mandatierten Einsätze, sondern „mehrtägige Seefahrten“, bei denen ein Zeitausgleich fällig wird: 16 Stunden Dienst am Stück ergeben den Anspruch auf einen freien Tag.

Nicht nur Soldaten mit hohem Überstundenkonto wollen die Mehrarbeit am liebsten ausgezahlt bekommen. Auch Vorgesetzte sehen das zunehmend so, weil sie andernfalls Kapazitätsprobleme fürchten. Viele Truppenangehörige schielen neidvoll auf die Bundespolizei, wo Überstunden inzwischen ausbezahlt werden.

Welche Lösung Ursula von der Leyen anstrebt, ist offen. Bundeswehrverbands-Vize Andreas Steinmetz bestätigte, „dass es wegen des Umgangs mit den Überstunden Gespräche zwischen dem Verteidigungsministerium als Arbeitgeber und dem Bundeswehrverband als Interessenvertretung der Soldaten gibt.“

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