Mürsitpinar in der Türkei Wie die Bewohner mit den Kämpfen im nahen Kobane umgehen

MÜRSITPINAR · Der Imam ist geflohen, genau wie der Lehrer und viele Einwohner. Sie wollten nicht mehr in einem türkischen Bauerndorf leben, das plötzlich an der Front eines Konfliktes mit der brutalsten Extremistengruppe des Jahrzehnts liegt.

Nur ein paar Eisenbahnschienen und ein geschlossener Grenzübergang trennen das türkische Mürsitpinar von Kobane, der syrischen Stadt, die seit Wochen von der Dschihadisten-Miliz "Islamischer Staat" (IS) angegriffen wird.

Der Krieg ist der neue Nachbar von Mürsitpinar. Einheiten der türkischen Polizei und Soldaten lassen niemanden ins Dorf und patrouillieren durch die Straßen. Gepanzerte Fahrzeuge stehen bereit. Aus Kobane dringt hin und wieder der dumpfe Knall einer Explosion herüber.

Besonders nachts höre man viele Schüsse und Einschläge, sagt ein Polizist. Auf dem Turm eines Getreidesilos an der Grenzlinie weht die türkische Fahne. Manchmal kann man von der türkischen Seite der Grenze aus die schwarze Fahne des IS sehen.

Im Dorfladen von Mürsitpinar hält Yusuf Cankaya die Stellung, umgeben von Regalen voller Shampoo und Waschmittel, die niemand mehr kauft. Die wenigen Geschäfte an der staubigen Straße zum Grenzübergang sind verriegelt. Die Moschee ist verwaist, seit sich der Imam abgesetzt hat.

Die Dorfschule ist geschlossen, so wie die Schulen in anderen Orten entlang der Grenze auch: Die Einschläge von Artilleriegeschossen aus Syrien machen den Unterricht lebensgefährlich. In Mürsitpinar hat das neue Schuljahr nach den Sommerferien deshalb gar nicht erst begonnen. Die meisten Menschen haben das Dorf verlassen, nur eine Handvoll Bewohner ist geblieben, die meisten, um sich um ihr Vieh zu kümmern. "Es ist wie im Krieg", sagt Cankaya.

Während die Politiker in Ankara über das neue Entsendegesetz reden, das der türkischen Armee den Einsatz in Syrien oder im Irak ermöglicht, und während in Europa über Waffenlieferungen an die Kurden und den möglichen Bündnisfall beim Nato-Mitglied Türkei diskutiert wird, ist der Krieg im türkisch-syrischen Grenzgebiet Realität. An einigen Stellen liegen nur 50 Meter zwischen den türkischen Panzern und den IS-Trupps auf der syrischen Seite der Grenze.

Eine Art Ausnahmezustand herrscht entlang des Grenzzauns. "Das Leben ist gelähmt", sagt ein Kurde in Mürsitpinar. Felder liegen brach, auf einem Militärgelände außerhalb des Dorfes sind drei Dutzend Panzer aufgefahren. In einer frisch ausgehobenen Stellung steht eine Panzerhaubitze, das Rohr zeigt Richtung Syrien.

Mehrmals haben die Türken das Feuer nach Syrien hinein erwidert, wenn Granaten des IS auf türkischem Boden niedergingen. Im nahen Dorf Tavsanli bejubeln Kurden Einschläge von alliierten Bomben auf IS-Stellungen. Auch in anderen Grenzdörfern sitzen Leute auf Hügeln und Dächern und schauen dem Krieg zu.

Cankaya übernachtet in seinem Haus neben dem Laden. Manchmal schlafe er auch im Auto außerhalb des Dorfes, wenn der Gefechtslärm von Kobane ungemütlich nahe an die Grenze rücke, erzählt er. Kurz darauf wird sein Haus von einem aus Kobane kommenden Querschläger getroffen.

Auf beiden Seiten der Grenze leben Kurden, viele haben Verwandte im jeweils anderen Land. Mürsitpinar und Kobane waren eigentlich einmal ein und derselbe Ort und wurden nur durch die Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg getrennt, erklärt ein Kurde.

Vor allem diese Verbindungen sind es, die es der Türkei ermöglicht haben, eine der größten Fluchtwellen der jüngsten Zeit aufzufangen. Im Westen von Mürsitpinar hat das türkische Katastrophenschutzamt ein Registrierungszentrum für syrische Flüchtlinge eingerichtet, die seit dem Beginn der IS-Offensive gegen Kobane in Massen über die Grenze geströmt sind.

Mehr als 160.000 sind es nach Angaben von Türkei und UN, und immer noch hält der Andrang an. Die meisten kommen bei Verwandten auf der türkischen Seite unter, die anderen schlafen in Zeltstädten, Moscheen oder öffentlichen Gebäuden.

Die türkischen Behörden haben einen eigenen Parkplatz für die Pkw, Traktoren, Lastwagen und Busse angelegt, in denen die Syrer zur Grenze kommen. Die Wagen werden mit Sprühfarbe nummeriert und abgestellt; ins Land dürfen sie nicht. Auch Rinder, Ziegen und Schafe der Flüchtlinge bleiben an der Grenze zurück. Das Landwirtschaftsamt hat nach eigenen Angaben in den letzten zwei Wochen mehr als 20 Tonnen Wasser und Nahrung für die Tiere heranschaffen lassen.

Am Flüchtlings-Kontrollpunkt werden Namen und persönliche Daten der neu ankommenden Syrer erfasst, bevor sie auf Lastwagen steigen, die sie in die nahe Kreisstadt Suruc bringen. Säcke, Decken, eingerollte Matratzen und Teppiche, Koffer und Sporttaschen tragen die Menschen, die auf die Ladeflächen der Lastwagen klettern. Einige schreien ihre Verzweiflung heraus. Wenn es einen Gott gäbe, dann gäbe es so etwas wie das hier nicht, ruft ein Mann aus.

Er hat einen behinderten Verwandten über die Grenze geschleppt, der nun jammernd neben ihm auf dem Boden sitzt. Die türkischen Polizisten und Soldaten tragen Schutzmasken, um sich gegen den feinen Staub zu schützen.

Ali Yavuzer ist einer der türkischen Fahrer, die die Syrer von der Grenze aus nach Suruc bringen. In normalen Zeiten ist er Bauer, aber seit zwei Wochen pendelt Yavuzer mit seinem Kleinlaster täglich zwischen der Kreisstadt und dem Kontrollpunkt für die Flüchtlinge hin und her. Das Landsratsamt zahlt Yavuzer den Sprit, seine Zeit spendet er der guten Sache.

Rund 30 neue Flüchtlinge drängen sich auf Yavuzers Fahrzeug. Einer von ihnen, Mustafa Hassin, hat noch die Wasserflasche in der Hand, die alle Flüchtlinge bei der Ankunft erhalten. Der IS stehe kurz vor Kobane, sagt er: "Die bringen alle um: Kinder, Frauen und Männer. Das sind keine Moslems."

Yavuzer schließt die Klappe an der Ladefläche und setzt sich ans Steuer. Mehr als ein Dutzend Mal fährt er jeden Tag auf der acht Kilometer langen Strecke hin und her. Abends drängen sich die Flüchtlinge auf dem Marktplatz von Suruc, wenn die Stadtverwaltung Essen austeilen lässt. Am nächsten Tag bringen Yavuzer und seine Kollegen neue Flüchtlinge in die Stadt.

Rund zwei Drittel der Bevölkerung aus Kobane und Umgebung seien bereits in die Türkei geflohen, sagt einer der Flüchtlinge in Mürsitpinar. Der Rest sitzt auf gepackten Koffern. Yavuzer wird wohl noch eine Weile weiter Flüchtlinge transportieren. Was aus Kobane werden wird? "Das weiß Gott allein", sagt er.

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