Nach dem Referendum Wer ist wer in der neuen türkischen Republik?

Istanbul · Mit der Abstimmung über die Verfassung hat am Bosporus eine neue politische Zeitrechnung begonnen. Ein Überblick über einige der wichtigsten Persönlichkeiten, die für die neue türkische Republik prägend werden dürften.

 Mit wehenden Fahnen verfolgen Anhänger Erdogans am Tag nach dem Referendum vor dem Präsidentenpalast in Ankara eine Ansprache des türkischen Präsidenten.

Mit wehenden Fahnen verfolgen Anhänger Erdogans am Tag nach dem Referendum vor dem Präsidentenpalast in Ankara eine Ansprache des türkischen Präsidenten.

Foto: AFP

Präsident Recep Tayyip Erdogan ist mächtiger denn je, doch er kann sich in der neuen Ära nicht nur auf treue Gefolgsleute verlassen, sondern wird sich auch mit mehreren Akteuren auseinandersetzen müssen, die den neuen Befugnissen des Staatsoberhauptes sehr skeptisch gegenüberstehen und die ihn vor politische Herausforderungen stellen könnten.

Recep Tayyip Erdogan:Der 63-jährige Staatspräsident hat mit dem umstrittenen Sieg beim Referendum einen weiteren Höhepunkt seiner Karriere erreicht. Bis zur nächsten Wahl in zwei Jahren will er seine Macht zementieren und sicherstellen, dass er von den dann voll in Kraft tretenden neuen Befugnissen als Staatsoberhaupt profitieren kann.

Auch 14 Jahre nach seinem Machtantritt als Ministerpräsident im März 2003 bleibt Erdogan seinem Ruf als Spalter treu: Statt auf die Gegner der Verfassungsreform zuzugehen, beschimpfte er die mehr als 23 Millionen Wähler, die das Präsidialsystem bei der Volksabstimmung am Sonntag abgelehnt hatten. Die Polarisierung im Land dürfte sich weiter vertiefen.

Berat Albayrak: Was die mittelfristige Zukunftsplanung im Hause Erdogan angeht, könnte diese durchaus dynastische Züge tragen. Berat Albayrak, der 39-jährige Schwiegersohn des Präsidenten, rückt seit seiner Berufung in die Regierung als Energieminister vor knapp zwei Jahren immer stärker in den Vordergrund. Als Erdogan am Sonntagabend zur Siegesrede nach dem Verfassungsreferendum schritt, gehörte Albayrak zu der Gruppe enger Berater, die vorher mit dem Chef über das weitere Vorgehen beraten hatten.

Der Ehemann von Erdogans Tochter Esra war im Wahlkampf vor dem Referendum auch am umstrittenen Besuch von Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya in den Niederlanden beteiligt. Die Tatsache, dass Kaya von der niederländischen Polizei aufgehalten und aus dem Land komplimentiert wurde, steigerte die Wut nationalistischer Türken auf die Europäer und trug möglicherweise zur Motivation dieser Wählergruppe für die Unterstützung Erdogans beim Referendum bei.

Binali Yildirim:Der gelernte Schiffbauingenieur ist ein ergebener Erdogan-Gefolgsmann, der beim Referendum die Aufgabe hatte, sich selbst überflüssig zu machen: Laut den beschlossenen Verfassungsänderungen wird Yildirims Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft. Schon in der Vergangenheit hatte Yildirim politische Himmelfahrtskommandos für seinen Chef übernommen. So bewarb sich der Politiker der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP – völlig aussichtslos – um den Bürgermeisterposten in der Säkularisten-Hochburg Izmir.

In der Zeit bis zur Präsidentenwahl 2019 wird sich Yildirim um die Vorbereitung der Präsidialrepublik kümmern, während Erdogan das Ruder in der Regierung übernimmt. Auch als Chef der AKP ist Yildirim lediglich der Statthalter des Präsidenten und dürfte schon bald von diesem als Parteivorsitzender abgelöst werden. Der 61-Jährige wird dennoch weiter an der Seite Erdogans zu finden sein, denn er gehört seit Jahren zu den engsten Mitarbeitern des Präsidenten.

Süleyman Soylu: Auch der türkische Innenminister gehört zu Erdogans Lieblingen. Einige Beobachter halten den 47-Jährigen für einen möglichen Kronprinzen des Präsidenten, was ihn zu einem potenziellen Rivalen von Albayrak machen könnte. Bis es soweit ist, wird sich Soylu als Chef der Sicherheitsbehörden vor allem um die terroristische Bedrohung durch militante Kurden, Islamisten und Linksextremisten kümmern und den Kurdenkonflikt im Auge behalten müssen. Zudem ist der Innenminister für das Vorgehen gegen mutmaßliche Anhänger des als Staatsfeind verteufelten Predigers Fethullah Gülen zuständig.

Die meisten Beobachter erwarten, dass die Säuberungen im Staatsapparat, die seit dem Putschversuch vom Juli bereits zur Entlassung von rund 130 000 Menschen und zur Inhaftierung mehrerer Zehntausend Beschuldigter geführt hat, nach dem Referendum mit neuer Kraft weitergehen wird. Soylu ist dabei der Mann fürs Grobe, der Erdogan zusammen mit Geheimdienstchef Hakan Fidan den Rücken freihalten soll – auch wenn sich dabei die Gefängnisse weiter füllen.

Meral Aksener: Die frühere Innenministerin – sie war von November 1996 bis Juni 1997 die erste Frau in diesem Amt – wird alles daransetzen, die Pläne von Erdogan und seinen Gehilfen zu durchkreuzen. Als knallharte Nationalistin ist die frühere Politikerin der Rechtspartei MHP für Erdogan eine besondere politische Gefahr. Aksener ist die Hoffnungsträgerin der vielen MHP-Anhänger, die vom langjährigen Parteichef Devlet Bahceli enttäuscht sind. Anders als Bahceli ärgerte Aksener, die 2016 aus der Partei ausgeschlossen wurde, den Präsidenten mit ihrem Wahlkampf gegen die Präsidialrepublik.

Vielen nicht-nationalistischen Türken ist Aksener wegen ihrer Rolle im schmutzigen Krieg des Staates gegen die Kurden in den 1990er Jahren kaum vermittelbar, als Integrationsfigur gegen Erdogan fällt sie also wahrscheinlich aus. Dennoch: Sollte die 60-Jährige es schaffen, sich als neue Chefin der türkischen Rechten zu etablieren, könnte sie zur politischen Bedrohung für die AKP werden, denn MHP und AKP wenden sich teilweise an dieselben Wählergruppen. Ein Auseinanderbrechen der MHP in einen Bahceli-treuen und einen Aksener-nahen Teil ist nicht auszuschließen. Wenn das geschieht, hat der Widerstand gegen Erdogan ein neues Gesicht.

Kemal Kilicdaroglu: Auch bei der türkischen Linken rumort es. Kilicdaroglu ist als Vorsitzender der säkularistischen CHP, der größten Oppositionspartei im Parlament, nominell der Oppositionschef des Landes. Doch der 68-Jährige agiert seit Jahren glücklos und ohne Charisma. Erdogan verspottet ihn regelmäßig mit dem Hinweis, dass Kilicdaroglu eine Wahl nach der anderen verliere, dennoch aber an seinem Posten klebe.

Ähnliche Vorwürfe hört man auch aus den Reihen der CHP selbst, bei der sich Anhänger eines liberalen Reformflügels über die Gralshüter der teilweise überholten Grundsätze von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk beschweren. Kilicdaroglu vermochte trotz der erheblichen Unzufriedenheit vieler Türken mit der Erdogan-Regierung bisher nicht, seiner Partei über ihr Stammwählerpotenzial von etwa 25 Prozent der Stimmen hinaus mehr Anhänger zu verschaffen.

Selahattin Demirtas: Der telegene und beliebte Chef der legalen Kurdenpartei HDP war bis vor Kurzem drauf und dran, Kilicdaroglu den Rang des Oppositionschefs abzulaufen. Im Jahr 2015 spielte der Anwalt aus dem ostanatolischen Elazig eine wichtige Rolle bei der ersten Niederlage der AKP bei einer Parlamentswahl – damals ließ Erdogan rasch erneut wählen, um die Scharte auszuwetzen. Derzeit kann der 44-jährige Demirtas, der die HDP als moderne Linkspartei aufstellte, nicht ins Geschehen eingreifen: Zusammen mit anderen Führungsmitgliedern seiner Partei wurde er im November vergangenen Jahres ins Gefängnis gesteckt. In der Haft im nordwesttürkischen Edirne vertreibt er sich mit Malerei die Zeit – wann Demirtas, eines der größten Talente der türkischen Politik, wieder seinen Platz in Ankara einnehmen kann, ist offen.

Metin Feyzioglu: Der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammer wird von einigen Beobachtern als Idealbesetzung der Rolle des Oppositionsführers und damit als Hauptgegner Erdogans betrachtet. Dass Feyzioglu keine Angst vor dem mächtigsten Mann des Landes hat, bewies er im Jahr 2014, als er Erdogan bei einer Festtagsrede so ärgerte, dass der damalige Ministerpräsident vor laufenden Kameras wutschnaubend aus dem Saal stampfte.

Auch nach dem Referendum vom Sonntag meldete sich Feyzioglus Anwaltskammer mit geharnischter Kritik an der Regierung und der Wahlkommission in Ankara zu Wort. Nicht zuletzt wegen der Schwäche der politischen Opposition in Ankara sind die türkischen Anwaltskammern in manchen Regionen des Landes zu den eigentlichen Zentren des Widerstandes gegen die Regierung geworden. Der 47-jährige Feyzioglu wirbt für eine moderne, aufgeschlossene und an westlichen Prinzipien des Rechtsstaates orientierte Türkei. Ohne politisches Mandat wird er jedoch Schwierigkeiten haben, sich auf Dauer in Ankara als maßgeblicher Akteur etablieren zu können.

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