Ein Jahr in Haft Wenig Hoffnung für Freilassung von Deniz Yücel

Istanbul · Auch nach einem Jahr in Haft gibt es für den Journalisten Deniz Yücel kaum Hoffnung auf baldige Freilassung, denn bis zum heutigen Tag liegt keine Anklageschrift vor.

Die vermeintlich gute Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Als das türkische Verfassungsgericht im Januar die Freilassung von zwei inhaftierten Journalisten anordnete, glaubten Freunde, Anwälte und Kollegen von Deniz Yücel, jetzt werde auch der deutsch-türkische Reporter bald seine Zelle im Gefängnis von Silivri westlich von Istanbul verlassen können. Schließlich gab es nicht nur die höchstrichterliche Anweisung, die als Präzedenz-Entscheidung galt. Kurz vor dem Urteil hatte auch die türkische Regierung gegenüber deutschen Politikern signalisiert, sie wolle den Fall Yücel lösen. Alle warteten gespannt auf den Moment, in dem Yücel aus dem Gefängnistor kommen würde. Aber der Moment kam nicht.

Seit einem Jahr sitzt Yücel, Türkei-Korrespondent der „Welt“, hinter Gittern. Weil die türkische Justiz hinter ihm her war, hatte sich Yücel Ende Dezember 2016 in der Istanbuler Sommerresidenz der deutschen Botschaft am Bosporus in Sicherheit gebracht. Yücel wurde offenbar wegen seiner Berichte über private E-Mails des türkischen Energieministers Berat Albayrak, eines Schwiegersohns von Präsident Recep Tayyip Erdogan, gesucht. Zudem wird ihm vorgeworfen, mit einem Interview mit Cemil Bayik, einem Anführer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Propaganda einer Terrororganisation verbreitet zu haben.

Bis heute liegt keine Anklageschrift vor

Vertrauliche Versuche deutscher und türkischer Stellen, den Fall des Journalisten diskret zu lösen, brachten kein Ergebnis. Deshalb stellte sich Yücel schließlich am 14. Februar den türkischen Behörden, kam zunächst in Polizeigewahrsam und schließlich in Untersuchungshaft.

Eine Anklageschrift gegen den 44-Jährigen gibt es bis heute nicht, wohl aber eine Vorverurteilung von höchster Stelle: Yücel habe sich als „PKK-Repräsentant“ und als “deutscher Agent“ in der Sommerresidenz versteckt, sagte Präsident Erdogan kurz nach Yücels Festnahme. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe ihn um Freilassung des Reporters gebeten, doch er habe auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz verwiesen, betonte der Staatschef. Wenig später fügte Erdogan hinzu, solange er im Amt sei, werde Yücel nicht nach Deutschland heimkehren. Wenn Erdogan die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr gewinnt, könnte er bis zum Jahr 2029 Staatschef bleiben.

Damit war die Tür zu Yücels Zelle fest verschlossen. Weil der Reporter neben dem deutschen auch einen türkischen Pass hat, liegt sein Fall anders als der des Berliner Menschenrechtlers Peter Steudtner, der im vorigen Sommer wegen angeblicher staatsfeindlicher Umtriebe in Haft kam, beim ersten Gerichtstermin im Oktober aber freigelassen wurde. Yücel wurde dagegen wie ein Schwerverbrecher in Einzelhaft gehalten, während Ankara alle Appelle zur Freilassung des Journalisten zurückwies.

Aus Sicht der türkischen Regierung passt Yücel in das Muster staatsfeindlicher Aktivisten. Erdogan nennt unbotmäßige Journalisten die „Gärtner“ des Terrorismus, die mit ihren Artikeln kurdische Gewalttäter oder die angeblichen Putschisten aus der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen anstiften. Rund 150 Journalisten sitzen in der Türkei in Haft, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Vielen wird vorgeworfen, gleich mehrere Terrororganisationen unterstützt zu haben. Bei Yücel gibt es bis heute nichts Schriftliches von der Anklagevertretung.

Laut Yücels eigenen Berichten aus Silivri und nach Einschätzung von Besuchern geht es dem Reporter im Gefängnis dennoch einigermaßen gut. Seit einigen Monaten ist er nicht mehr abgeschottet, sondern darf sich tagsüber auf dem Hof vor seiner Zelle mit dem türkischen Journalisten Oguz Usluer treffen, dem ehemaligen Nachrichtenchef des Fernsehsenders Habertürk. Usluer sitzt wegen des Verdachts der Nähe zur Gülen-Bewegung in Haft und weiß ebenso wenig wie Yücel, wann er mit einem Urteil oder der Freilassung rechnen kann. Immerhin konnte sich Usluer schon vor Gericht gegen die Vorwürfe der Anklage verteidigen.

Das Klima zwischen Berlin und Ankara wird wieder rauer

Yücel verbringt seine Tage mit Lesen – er hat elf türkische Tageszeitungen abonniert – und Schreiben. Er hat einen Fernseher und kann sich im Gefängnisladen Stifte und Papier kaufen. Er frühstückt mit Usluer und absolviert mit ihm den Hofgang. Seine Frau Dilek darf Yücel aber nur einmal pro Woche sehen – und zwar unter Beobachtung von Vollzugsbeamten.

Für Yücel keimte im Zuge der deutsch-türkischen Wiederannäherungsversuche der vergangenen Monate neue Hoffnung auf. Die Außenminister Mevlüt Cavusoglu und Sigmar Gabriel sprachen häufig und lange über die diversen Streitpunkte in den Beziehungen. Als Cavusoglu betonte, er sei nicht erfreut über das Ausbleiben einer Anklageschrift gegen Yücel, ließ das Beobachter aufhorchen: Auch Steudtners Freilassung im vorigen Jahr war sachte Kritik von Cavusoglu an der Justiz vorausgegangen. Gabriel deutete unterdessen einen Zusammenhang zwischen einer Genehmigung für deutsche Rüstungslieferungen an die Türkei und Yücels Freilassung an. Auch wenn solche Überlegungen vielfach – unter anderem von Yücel selbst – kritisiert und zumindest öffentlich nicht weiter verfolgt wurden, entstand doch der Eindruck, dass die Dinge in Bewegung gekommen seien.

Daher sorgte das Verfassungsgerichtsurteil zur Freilassung der türkischen Journalisten Sahin Alpay und Mehmet Altan – auch sie sitzen in Silivri ein – für Aufsehen. Die obersten Richter sahen in der langen Untersuchungshaft eine Verletzung der Grundrechte. Auch für Yücel, der sich ebenfalls an das oberste Gericht gewandt hatte, könnte sich hier ein Weg zur Freiheit auftun, lautete die Erwartung. Doch die Freude währte nur kurz. Untergeordnete Gerichte weigerten sich, die Anweisung der Verfassungsrichter umzusetzen und erhielten dafür Beifall von der Erdogan-Regierung. Anfang Februar nahm die Justiz auch die zunächst angeordnete Haftentlassung des Menschenrechtlers Taner Kilic wieder zurück.

Das politische Klima zwischen Deutschland und der Türkei wird unterdessen wieder rauer. Die neue Bundesregierung in Berlin will den türkischen EU-Beitrittsprozess einfrieren und lehnt die Forderung Ankaras nach Visafreiheit ab. Nun richten sich alle Hoffnungen von Yücel und anderen Inhaftierten auf den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Als Oberaufseher fällt den Straßburger Richtern die Aufgabe zu, Grundsatzurteile für den Umgang der Türkei mit gewaltfreien Kritikern zu fällen. Zumindest theoretisch muss sich die Türkei als Mitglied des Europarates den Urteilen aus Straßburg beugen. Straßburg will bis zum Sommer über Yücels Schicksal entscheiden.

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