Kommentar zu Hillary Clintons Antrittsrede Umfassend aber nie mitreißend

Meinung | Philadelphia · Nach der politischen Poesie des Barack Obama vor acht Jahren nun also die eher schlichte Prosa von Hillary Clinton. Nach den mitreißenden Himmelsstürmereien des ersten Afro-Amerikaners im Weißen Haus nun die gut abgehangenen Rezepte der erfahrensten Hausfrau in Amerikas Politküche.

Hillary Clintons Antrittsrede für die Präsidentschaftskandidatur in Philadelphia erfüllte die Erwartungen derer, die im Leben stehen und sie seit langem kennen. Der Vortrag war gut konstruiert, umfassend aber nie mitreißend. Schon nächste Woche wird sich kaum jemand mehr wirklich daran erinnern.

Aber die Rede enthielt viele, fast alle zentralen Baustellen, die in Amerika unerledigt sind oder seit Jahren brach liegen. Wo ihr Widersacher auf republikanischer Seite leere Regale mit kiloweise diffusen Versprechen anbietet („Amerika wieder groß machen“), führt Clinton einen gut sortierten Gemischtwarenladen mit sehr konkreten Politikangeboten (kostenlose öffentliche Hochschulen, Abschaffung uferloser Gesetze zur Parteienfinanzierung, Konjunkturprogramm zur Sanierung der Infrastruktur etc.), denen allein die nötigen Preisschilder fehlen.

Wo Trump schwadroniert, verzerrt und schwarz malt, legt Clinton eine klare Agenda vor, an der man sich reiben kann - vom bezahlten Mutterschaftsurlaub bis hin zu einer Industrie- und Energiepolitik, die den Klimawandel nicht für Hokuspokus hält.

Wo Trump sich aufplustert als Heiland, der Amerika im Alleingang vor dem Untergang retten will, präsentiert sich Clinton als Team-Spielerin mit gutem Auge für ihre grundsolide Mannschaft: Amerika. Der US-Wahlkampf hat seit gestern ein heimliches Leitmotiv: Ich gegen Wir. Clinton steht für das Gemeinsame. Um Trump könnte es einsam werden.

In Philadelphia trat eine Hillary Clinton auf, die ihr im Vergleich zu Trump vollständiges Anderssein in die Waagschale warf. Erfahrungsgesättigt durch 25 Jahre auf der internationale Bühne. Gestählt durch Krisen und Fehltritte. In der Lage und willens abzuwägen, Kompromisse zu basteln, Brücken zu bauen.

Trump dagegen nach ihrer Charakterisierung: eine „lose Kanone“, ein unberechenbarer Egoist, ein Macho ohne Kompass, der spaltet und ausgrenzt, permanent mit dem Feuer spielt und nichts zu bieten hat als heiße Luft.

Clintons Botschaft atmtet den „Keine Experimente wagen“-Duft. Sie will im Prinzip weitermachen, wo Obama nach acht Jahren aufhört. Sie weiß mit 68, was sie ist - und was nicht. Bei dem 70-Jährigen Trump taucht in regelmäßigen Abständen ein 7-jähriges Trotzkind auf.

Für Wähler im demokratischen Spektrum bleiben darum nicht viele Fragen offen. Bis auf die eine, vielleicht entscheidende, die aber eine einzelne Rede niemals beantworten kann: Kann man ihr wirklich trauen? Clinton ging mit Selbstkritik (E-Mail-Affäre etc.) ungeschickt um: Sie übte keine. Mal wieder.

Für den großen anderen Teil Amerikas, für den Clinton das Synonym für Augiasstall und Trump der Typ mit der Mistgabel ist, bleibt das Feindbild damit so klar wie es vor Philadelphia war.

In den kommenden 100 Tagen bis zur Wahl wird sich zeigen, welche Seite die größere Überzeugungskraft entwickelt. So viel ist zu sagen: Clinton ist in nahezu jeder Hinsicht die bessere, die vernünftigere Wahl.

Aber ob tatsächlich im kommenden Januar zum ersten Mal eine Frau ins Oval Office einzieht, ist noch längst nicht ausgemacht. Die destruktive Stimmung im Land, die einen Hasardeur wie Trump an die Macht spülen kann, war noch nie so stark.

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