Aufstand niedergeschlagen Türkei erlebt "Zustände wie im 19. Jahrhundert"

Istanbul · Die türkische Polizei hat einen Arbeiteraufstand am neuen Istanbuler Flughafen, dem wichtigsten Prestigeprojekt von Präsident Erdogan, niedergeschlagen. Regierungsgegner üben heftige Kritik.

 Die türkische Polizei führt Demonstranten ab, die mit ihrem Protest die Arbeiter am Flughafen unterstützen wollten.

Die türkische Polizei führt Demonstranten ab, die mit ihrem Protest die Arbeiter am Flughafen unterstützen wollten.

Foto: AFP

Die Unterkünfte sind voller Wanzen und Flöhe, das Essen ist ungenießbar, und immer wieder gibt es tödliche Unfälle – die Arbeiter am neuen Istanbuler Großflughafen werden „wie Sklaven“ gehalten, sagt der Oppositionspolitiker Erkan Bas. Jetzt traten Tausende von Arbeitern auf der Mega-Baustelle in den Streik, doch die Reaktion der Arbeitgeber und der Staatsgewalt war schnell und rücksichtslos. Wasserwerfer fuhren auf, Polizisten in Kampfmontur traten die Türen zu den Unterkünften ein und nahmen mehrere hundert Arbeiter fest. Die Türkei erlebe Zustände wie im 19. Jahrhundert, sagen Regierungsgegner.

Der geplante Riesen-Airport, der nach dem Endausbau der größte der Welt sein soll, ist das wichtigste Prestigeprojekt von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Ein Konsortium aus regierungsnahen Unternehmen stampft den Flughafen nördlich von Istanbul mit rund 40 000 Arbeitern aus dem Boden. Geschuftet wird Tag und Nacht: Das erste Flugzeug landete mit Erdogan an Bord im Juni, der reguläre Flugbetrieb soll am Republikstag am 29. Oktober aufgenommen werden. Unbestätigten Berichten zufolge soll der Flughafen nach Erdogan benannt werden.

Der Airport werde auf den Knochen der Arbeiter gebaut, beklagt die Architektenkammer in der Hauptstadt Ankara. Die „Versklavung“ auf dem Flughafen sei ein Beispiel dafür, wie in der Türkei allgemein mit Arbeitern umgesprungen werde. Die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ berichtete im Frühjahr von bis zu 400 Toten bei Arbeitsunfällen seit dem Baubeginn vor drei Jahren. Die Regierung spricht von 27 Todesopfern, doch Kritiker halten die Zahl für geschönt: Tödliche Arbeitsunfälle am Flughafen würden unter den Teppich gekehrt, zitierte der Anwalt Gönenc Gürkaynak einen Arbeiter.

Dass die Arbeiter die tödlichen Gefahren auf sich nehmen, liegt erstens daran, dass viele Familien das Geld brauchen. Nach Oppositionsangaben sind unter den Arbeitern viele Migranten, die sich davor hüten, gegen die Arbeitgeber aufzumucken. „Wer den Mund aufmacht, dem wird mit Entlassung gedroht“, wurde ein Arbeiter zitiert.

Gewerkschaften sind in der Türkei fast machtlos

Zweitens sind die Gewerkschaften in der Türkei fast machtlos. Beim Militärputsch von 1980 waren noch 90 Prozent aller Arbeiter gewerkschaftlich organisiert, heute sind es nur zehn Prozent. Tarifverträge gelten etwa für nur jeden zehnten Beschäftigten. Am schlimmsten sei es am Bau, sagt der in Schweden lebende Türkei-Experte und Buchautor Halil Karaveli: In der Bauindustrie, der Lokomotive der türkischen Wirtschaft, gibt es die meisten tödlichen Arbeitsunfälle; dort sind keine drei Prozent der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert.

Schwache Gewerkschaften stehen einem Bündnis aus Regierung und Großunternehmen gegenüber – der Oppositionspolitiker Baris Yarkadas fühlt sich deshalb an den Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts erinnert: Die Polizei sei gegen die Arbeiter am Flughafen vorgegangen, obwohl diese nichts anderes gefordert hätten als menschenwürdige Zustände, schrieb Yarkadas auf Twitter.

„Es wird immer schlimmer“, sagte auch der Parlamentsabgeordnete Bas, der nach der Festnahme der Arbeiter bei der Polizei die Freilassung der Demonstranten forderte. Wegen des nahen Eröffnungstermins würden die Arbeiter unter Druck gesetzt und geschunden, sagte Bas unserer Zeitung. Widerspruch wird nicht geduldet. Mit Gewalt ging die Polizei auch gegen eine kleine Unterstützer-Demo für die Arbeiter in Istanbul vor und nahm unter anderem einen Pressefotografen vorübergehend fest.

Beschwerden der Beschäftigten gibt es schon seit Jahren

Der Flughafenbetreiber IGA erklärte, er werde sich den Forderungen der Arbeiter annehmen, doch viele sind skeptisch. Beschwerden der Beschäftigten gibt es schon seit Jahren, ohne dass sich etwas geändert hätte. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die Behörden den Protest nutzen wollen, um die Arbeitnehmervertretung am Flughafen weiter zu schwächen: Die Baugewerkschaft Insaat-Is kritisierte, die Polizei versuche, festgenommene Arbeiter zu Aussagen gegen Gewerkschaftsfunktionäre zu ermuntern.

Für die größtenteils auf Regierungslinie gebrachten Medien steht ohnehin fest, dass der Aufstand der Arbeiter eine politisch motivierte Attacke ist. Die Zeitung „Türkiye“ verglich die Proteste mit den Gezi-Unruhen des Jahres 2013. „Dunkle Kräfte“ wie die kurdische Terrorgruppe PKK seien verwickelt.

Die Proteste am Flughafen könnten den engen Zeitplan für das Projekt ins Wanken bringen. Auch am Sonntag ruhte die Arbeit an vielen Stellen der Großbaustelle. Inzwischen bezweifeln manche Beobachter und Gewerkschafter, dass der Flughafen am 29. Oktober betriebsbereit sein kann. Doch schon jetzt steht fest, dass der Preis für das Großprojekt sehr hoch sein wird.

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