70 Jahre Israel Tage des Zorns im Gelobten Land

JERUSALEM · Nach den tödlichen Schüssen am Grenzzaun des Gaza-Streifens steht Israel international unter Druck. Die Eskalation der Gewalt folgte der Logik eines Landes, das sich seit seiner Gründung immer wieder verteidigen musste – und in dem das Trauma des Holocaust noch immer nachwirkt.

 Blick auf einen Markt in Jerusalem.

Blick auf einen Markt in Jerusalem.

Foto: Baumann

Die Ruhe hier draußen ist trügerisch. Die jungen Soldatinnen im Armeebus, der vorbeirollt, winken und lachen. Ein Traktor zieht Kreise auf endlosen, staubigen Feldern. Links am Horizont die Häuser von Chan Yunis, es folgen zwei Minarette – und dann Wachtürme der Terrorgruppe Hamas. „Kein gutes Gefühl, wenn du weißt, dass ein Scharfschütze sein Zielfernrohr auf dich gerichtet hat“, sagt Baruch Cohen (66). „Aber keine Sorge, Scharfschützen feuern nur auf viel kürzere Distanz, 55 Meter vielleicht.“

Cohen ist Sicherheitsbeauftragter im 270-Seelen-Kibbuz Magen, 100 Kilometer südlich von Tel Aviv an der Grenze zum Gaza-Streifen. Ein Ex-Fallschirmjäger, ein kantiger Typ im schwarzen T-Shirt und Pistole im Holster. Einen Steinwurf entfernt haben die Israelis einen Angriffs-Tunnel der Hamas entdeckt, berichtet er: in 27 Metern Tiefe, mannshoch, ausgestattet mit Motorrädern, die wohl für Selbstmordattentate benutzt werden sollten. Normalerweise sprengt die Armee solche Tunnel sofort. Diesen zeigen sie ausländischen Militärs, damit ihnen geglaubt wird, sagt Cohen. Die Aggression, lautet seine Botschaft, kommt von der anderen Seite des Zauns. Er weiß, dass die halbe Welt die Palästinenser für Opfer und die Israelis für eine brutale Militärmacht hält. „Dabei versorgen wir sogar Kranke aus Gaza in unseren Kliniken“, ruft Cohen. „Das berichten die internationalen Medien nie.“

Israels Armee setzt Scharfschützen ein

Dafür umso mehr über die blutigen Zusammenstöße an der Grenze. Fünf Wochen lang protestieren Zehntausende von Palästinensern jeden Freitag auf ihrer Seite des Zauns, angestachelt von der Hamas, die Gaza seit elf Jahren beherrscht und einen „Marsch der Rückkehr“ ins Gelobte Land ausgerufen hat. Die Menschen sind frustriert: Israel und Ägypten riegeln den Küstenstreifen ab, die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland trägt ihren Machtkampf mit der Hamas aus, indem sie Hilfsgelder nicht weiterleitet; die Versorgung ist schlecht, die Arbeitslosigkeit hoch.

Etwa 50.000 Menschen strömen am 14. Mai, dem symbolträchtigen Tag, als die US-Botschaft in Jerusalem eröffnet wird, an die Grenze. Es ist kein friedlicher Protest. Autoreifen brennen, Flugdrachen mit Brandsätzen segeln auf israelische Felder und Dörfer zu, Männer schleudern Steine und Molotowcocktails auf Soldaten und versuchen, den Zaun zu durchschneiden. Die israelische Armee fürchtet, dass Terrorkommandos der Hamas das Chaos nutzen könnten, um nach Israel einzusickern. Sie antwortet mit tödlichem Scharfschützenfeuer: Allein am 14. Mai sterben laut UN 58 Palästinenser, mehr als 2000 werden verletzt, viele davon schwer. Die Zahl der Toten seit Beginn des „Marsches der Rückkehr“ steigt auf rund 100; darunter zahlreiche Hamas-Mitglieder.

Weltweit kritisieren Staaten diesen exzessiven Waffeneinsatz. Der Uno-Menschenrechtsrat fordert eine unabhängige Untersuchungskommission. Israel lehnt die Resolution sofort ab. „Sie beweist einmal mehr, dass es sich um eine Organisation mit einer automatischen anti-israelischen Mehrheit handelt, in der Heuchelei und Absurdität die Oberhand haben“, teilt das Außenministerium in Jerusalem mit. Regierung und Armee halten den Schießbefehl für legitim, weil die Hamas eine feindliche Macht und deshalb Kriegsrecht anzuwenden sei. Auch Baruch Cohen vom Kibbuz Magen plagen keinerlei Zweifel. „Sie wissen genau, dass wir sie nicht durchlassen werden“, sagt der Sicherheitsbeauftragte kühl.

Es ist die Logik eines Landes, das seit seiner Gründung vor 70 Jahren von arabischen Feinden bedroht ist und immer wieder Krieg führen musste. Und in dem das Trauma des Holocaust noch immer nachwirkt. Stets geht es um das Existenzrecht Israels. Im Norden fliegt die Luftwaffe seit Wochen Angriffe auf Stellungen der Iraner und verbündeter Schiitenmilizen in Syrien, um Attacken auf das eigene Territorium zu verhindern.

Als mutmaßlich die Revolutionsgarden vor knapp zwei Wochen 20 Raketen auf einen Militärposten auf den Golanhöhen abfeuerten, bombardierten die Israelis in einem massiven Vergeltungsschlag rund 50 Ziele auf syrischem Boden. Nun droht eine Eskalation bis hin zum offenen Krieg mit Teheran. Die Hisbollah im Libanon, ein weiterer, vom Iran finanzierter Erzfeind, verfügt nach israelischen Angaben über mehr als 100.000 Raketen, die weite Teile des jüdischen Staates treffen können. Trotz moderner Abfangsysteme wären bei einem koordinierten Angriff zivile Opfer kaum zu verhindern.

Latente Bedrohung gehört zum Lebensgefühl der Israelis. Wachpersonal mit Maschinenpistolen und Taschenkontrollen vor öffentlichen Gebäuden wie dem Busbahnhof in Tel Aviv sind Alltag. Vor Jahren haben die Behörden den Sirenenton von Notarztwagen verändert, weil er zu sehr dem Raketenalarm glich und manche Menschen in Panik versetzte. Tel Aviv stand zuletzt 2014 während des Gaza-Krieges unter Beschuss. „Das kann man nie ganz vergessen“, sagt eine Frau, die seit Jahrzehnten in der Region lebt. „Schlimmer war aber die zweite Intifada. Das sitzt tiefer.“

Palästinenser leben in vier verschiedenen Realitäten

Nach dem Scheitern der Friedensgespräche mit den Palästinensern explodierten auch in Tel Aviv Bomben in Bussen und Cafés; bei einem Selbstmordanschlag auf den Nachtclub Dolphinarium, bis heute eine mahnende Ruine, starben 2001 insgesamt 21 Israelis. „Es war unglaublich schwer für mich, es in einem Bus auszuhalten“, erinnert sich die Frau. „Man schaute auf jeden mit Misstrauen. Die Attentäter kamen ja auch getarnt als Schwangere oder ultraorthodoxe Juden in langen Mänteln.“ Erst Jahre später ebbte die Gewalt ab.

Sollte die Hamas jetzt auf eine dritte Intifada gehofft haben, so ist das Kalkül der Terrorgruppe bisher nicht aufgegangen. Außerhalb Gazas gab es einzelne Angriffe, darunter eine tödliche Messerattacke auf einen Israeli in Jerusalem. Der große Aufstand aller Palästinenser aber blieb aus. Bis heute ist jedoch auch kein Ende des Konflikts in Sicht. Zwar gab es 2008 erneute Verhandlungen mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas über eine Zwei-Staaten-Lösung. Doch seit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu 2009 die Macht übernommen hat, regt sich kaum noch etwas.

Die Palästinenser leben heute zwischen Mittelmeer und Jordanfluss in vier verschiedenen Realitäten. Rund zwei Millionen im Gaza-Streifen, den Israel 2005 geräumt hat – wobei Hunderte israelische Siedler gegen ihren Willen weichen mussten. 1,8 Millionen Palästinenser sind israelische Staatsbürger (20,1 Prozent der Bevölkerung) mit allen Rechten, aber auch Diskriminierungserfahrungen. Weitere 330.000 leben mit Sonderstatus in Ost-Jerusalem: Sie haben als „permanente Residenten“ Personalausweise und Zugang zu den israelischen Sozialsystemen, besitzen aber keinen Reisepass und dürfen nicht an Parlamentswahlen teilnehmen.

Und 2,7 Millionen Palästinenser bevölkern das Westjordanland, das Israel seit 1967 weitgehend okkupiert hat. Die Netanjahu-Administration treibt den Ausbau jüdischer Siedlungen dort mit immer neuen Baugenehmigungen voran. Auf Landkarten sieht die Westbank wie ein Flickenteppich in drei Farben aus. Nur 18 Prozent werden komplett von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) regiert – die Zone A. In Zone B (20 Prozent der Fläche) sorgt die PA für die zivile Verwaltung, die Gebiete stehen aber unter Kontrolle der israelischen Armee. Und Zone C, rund 62 Prozent des Westjordanlandes, ist völlig unter militärischer Verwaltung Israels. Sperrmauern verhindern an vielen Stellen, dass Palästinenser auf israelisches Gebiet gelangen. Sie dürfen nur auf Antrag die schwer bewachten Checkpoints passieren, um zum Beispiel in Israel zu arbeiten. So setzt der jüdische Staat seine Sicherheitsinteressen durch.

Israelische Behördenwillkür

Was es heißt, unter israelischer Besatzung zu leben, ist in der 2017 erschienenen Essaysammlung „Oliven und Asche“ nachzulesen (Kiepenheuer & Witsch). Die Organisation Breaking the Silence, in der ehemalige Soldaten aktiv sind, hatte weltweit 26 Schriftsteller in die Palästinensergebiete eingeladen, um „Zeugnis abzulegen“ – darunter Eva Menasse, Mario Vargas Llosa und Colum McCann. Sie berichten von Bauern, denen die Mauer den Weg zum Feld versperrt; von gedrosselter Wasserversorgung; von Willkür an den Checkpoints; von Schnellstraßen zu den Siedlungen in der Westbank, die aus Sicherheitsgründen nur Autos mit israelischen Kennzeichen benutzen dürfen – was die Palästinenser oft zu kilometerweiten Umwegen zwingt.

Israelische Behördenwillkür kennt auch Suleiman Abu-Dayyeh (61), ein christlicher Palästinenser, Abteilungsleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem. Er stammt aus der Nähe von Bethlehem und hat eine Ost-Jerusalemerin geheiratet. Deshalb konnte er einen Antrag auf den Residentenstatus im Ostteil der Heiligen Stadt stellen. Entschieden habe die Behörde noch nicht, so Abu-Dayyeh. Und zwar seit 25 Jahren nicht. Deshalb müsse er seine Aufenthaltsgenehmigung jedes Jahr verlängern lassen. Seit drei Monaten sei er „illegal“, was die Israelis aber stillschweigend duldeten – typisch für die Widersprüchlichkeit in vielen Details des gesellschaftlichen Lebens. „Ja“, spottet der Wirtschaftswissenschaftler, der in Bonn studiert hat, „so frei und souverän sind die Palästinenser im eigenen Land“.

Nähe zu israelischen Siedlungen sorgt für Spannungen

Wirtschaftlich geht es den Palästinensern in der Westbank – mit Hilfe der EU und anderer internationaler Geldgeber – besser als in Gaza. Ihre Hauptstadt Ramallah ist mit rund 150.000 Einwohnern eine moderne arabische Stadt, in der auffällig viele teure Autos fahren. Politisch aber ist die Mehrheit unzufrieden. „Die Autonomiebehörde gilt als autoritär und korrupt“, berichtet der palästinensische Meinungsforscher Khalil Shikaki. Glaubten 1996 noch 50 Prozent der Befragten, die PA sei auf dem Weg zu einer funktionierenden Demokratie unter der Fatah-Partei des Mahmud Abbas, sind es heute nur noch 20 Prozent.

Für Spannungen sorgt aber auch die unmittelbare Nähe zu israelischen Siedlungen, die von der Armee geschützt werden. „Ich würde mit diesen Landräubern niemals auch nur ein einziges Wort wechseln“, sagt eine junge, gebildete Palästinenserin bei einem Treffen in Ramallah. Mit ihrem Ehemann hat sie ein Haus in der Umgebung, in dem sie ihre Tochter nie allein zurücklässt. Sie habe Angst, das Kind könnte beim Spielen in Richtung der benachbarten israelischen Siedlung laufen. „Ich habe Angst, dass sie auf meine Tochter schießen.“

Bob Lang (59) hält das für pure Propaganda. „Ich kenne keinen Fall, in dem einem palästinensischen Kind etwas zugestoßen wäre“, sagt der Leiter des Religiösen Rates der jüdischen Siedlung Efrata, 15 Kilometer von Bethlehem in der Zone C gelegen. Eine grüne Wohlstandsoase mit wogenden Palmen, rotgedeckten Einfamilienhäusern und Apartmentblocks sowie zwei Einkaufszentren. Efrata hockt auf sieben Hügeln. In den Tälern ringsum: arabische Felder und Dörfer. Die Palästinenser dürfen die Hügel nur mit Erlaubnis zum Arbeiten betreten. Auch die Bushaltestellen an den Ortszufahrten sind tabu und werden von Soldaten bewacht.

„Die meisten Palästinenser verstehen unsere Sicherheitsbedürfnisse“, versichert Lang in einem klimatisierten Konferenzraum. In Efrata habe es während der zweiten Intifada zwei Bombenanschläge gegeben. Beide Attentäter seien gestorben, mehrere Juden verletzt worden. Lang ist der Sohn eines deutschen Holocaust-Überlebenden und 1975 aus New York eingewandert. Der vierfache Vater trägt Kippa und Randlosbrille; während seines Vortrags vergräbt er die Hände in den Hosentaschen und tritt lässig von einem Fuß auf den anderen.

Lang ist ein versierter Anwalt der Siedlerinteressen, ein früherer Pressesprecher des Dachverbandes jüdischer Siedlungen in der Westbank. Efrata wächst, berichtet er. Vor zwei Jahren hatte die Siedlung 9500 Einwohner, heute sind es 11.500, binnen zwei Jahren sollen es 15.000 werden. Rund 800 Wohnungen sind im Bau, fast alle schon verkauft, weil die Nachfrage hoch ist – in den Siedlungen sind sie viel billiger als außerhalb der Westbank. „Wir hoffen auf weitere Baugenehmigungen“, erklärt Lang. „Die liegen der Regierung zur Entscheidung vor.“

Die Beziehungen zu den palästinensischen Nachbarn beschreibt der Siedler als „neutrale Koexistenz“. Er träume davon, eines Tages gemeinsame Fußballturniere zu veranstalten. „Um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen, müssen wir die Kooperation ausbauen, auch wirtschaftlich.“ Doch das scheitere an Palästinenserpräsident Abbas und seiner Autonomiebehörde. Wer Land an Juden verkaufe oder zu eng mit ihnen zusammenarbeite, riskiere Haft oder sogar den Tod.

Hohe Hürden vor Zwei-Staaten-Lösung

Anders als die internationale Staatengemeinschaft hält Lang den Siedlungsbau im Westjordanland für legal. Efrata sei auf staatlichen Grundstücken errichtet. Seine Argumentation: Die letzten legitimen Eigentümer der Westbank waren bis 1948 die Briten als Mandatsmacht. Dann besetzten die Jordanier das Land, bis Israel sie 1967 im Sechstagekrieg vertrieb. Einen Staat der Palästinenser habe es hier also nie gegeben. Das Heilige Land habe schon zu biblischen Zeiten den Juden gehört. „Es ist meine Heimat, meine Geschichte“, stellt der 59-Jährige fest. Wer ihm hier zu lange widerspricht, erlebt einen anderen Bob Lang: Er läuft rot an, wird lauter und fragt, ob „Judäa etwa wieder judenrein“ werden solle? Einen eigenen Staat für die Palästinenser lehnt er ab. Er wird sein Haus niemals freiwillig räumen.

Dabei wäre eine Mehrheit der Israelis dafür, Westbank-Siedlungen aufzugeben, um Frieden zu erreichen. In Umfragen befürworten seit Jahren rund 60 Prozent der Teilnehmer eine Zwei-Staaten-Lösung. „Wir haben zwölf mögliche Szenarien untersucht“, berichtet Udi Dekel, Geschäftsführer der Denkfabrik Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv. „Das Zwei-Staaten-Modell hat sich definitiv als stabilstes Szenario erwiesen. Israel muss einen Prozess starten, um die Chance auf diese Lösung am Leben zu erhalten.“ Dekel, ein früherer Brigadegeneral und zuletzt Planungschef des Generalstabs, hält eine engere Kooperation mit der Autonomiebehörde für nötig, „um die Realität gemeinsam zu verbessern“. Die PA arbeitet seit Jahren mit israelischen Sicherheitskräften zusammen, um Terrorakte zu verhindern.

Doch vor einer Zwei-Staaten-Lösung stehen hohe Hürden: Das Rückkehrrecht für die Nachkommen der rund 800.000 Palästinenser, die nach Israels Unabhängigkeitserklärung 1948 flohen oder vertrieben wurden. Und der arabische Anspruch auf Ost-Jerusalem als Hauptstadt eines künftigen Palästinenserstaates. Die Israelis sehen ganz Jerusalem als ihre „ewige und unteilbare“ Hauptstadt an. Seit US-Präsident Trump den Umzug der amerikanischen Botschaft verkündete, sinkt die Zahl der Palästinenser, die an eine Zwei-Staaten-Lösung glauben, noch schneller.

„2008 waren es 70 Prozent“, sagt Meinungsforscher Shikaki, „heute sind es 45 Prozent“. Sie zweifeln unter anderem, weil Israel den Siedlungsausbau forciert. Viele fürchten um ihre Jobs in Israel, falls Palästina ein souveräner Staat wird. Eine wachsende Zahl, vor allem die Generation unter 22 Jahren, will lieber in einem gemeinsamen Land mit gleichen Rechten leben, so Shikaki.

Die Frage ist aber, ob die Netanjahu-Regierung überhaupt Interesse hat, den Status Quo zu ändern. Eine Zwei-Staaten-Lösung bedeutet die Aufgabe von Siedlungen. Und käme der gemeinsame Staat, müssten Checkpoints und Sperranlagen irgendwann verschwinden. Da die Palästinenser eine höhere Geburtenrate haben als die Israelis, würden die Juden in einigen Jahrzehnten nicht mehr die Mehrheit im Land stellen – im Selbstverständnis des jüdischen Staates ein Problem, wie Medienberichten zu entnehmen ist.

In Netanjahus Regierungskoalition haben die Siedler, die Nationalreligiösen und die Ultraorthodoxen starken Einfluss. Seine Politik kommt bisher bei den Wählern an; die Linke ist schwach. Journalisten fühlen sich von der Regierung gegängelt und schlecht informiert. „Sie versuchen, Kritik in den Medien zu dämpfen“, berichtet Nechama Duek, die seit 36 Jahren für die Tageszeitung Yedioth Ahronoth schreibt. „Die Demokratie in Israel gerät unter Druck.“

Im Westjordanland zündet der Aufstand nicht

Diese Tendenz beobachtet auch Amir Fuchs, Jurist und Forscher am Israel Democracy Institute – und zwar bereits seit zehn Jahren. Wer heute zum Beispiel zum Boykott israelischer Waren aufruft, riskiert eine Anklage vor Gericht. Und Premier Netanjahu, selbst wegen Korruptionsermittlungen angeschlagen, will die Macht der Regierung weiter stärken. Seine Koalition arbeitet an einem neuen Gesetz, mit dem Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes relativ leicht mit einer Mehrheit von 61 Stimmen in der Knesset ausgehebelt werden könnten. „Dann würde es für die regierenden Parteien keine Grenzen mehr geben“, fürchtet Wissenschaftler Fuchs. „Bisher ist der Oberste Gerichtshof der wichtigste Verteidiger der Menschenrechte in Israel.“

Doch es gibt auch Hoffnungszeichen. Das Bildungszentrum Givat Haviva im Norden Israels etwa hat in den vergangenen Jahren schon rund 8000 Schüler der Region zu gemeinsamen Seminaren eingeladen, um das Verständnis zwischen Juden und israelischen Palästinensern zu fördern. „Wir sind eine Keimzelle“, sagt der arabische Programmleiter Samer Atamni. „Wir wollen ein neues Israel durch Bildung erreichen.“ Auch die Haltung mancher Eltern ändere sich. Die besuchten heute die Lokale in arabischen Dörfern, die sie früher gemieden hätten.

Oder das Ausbleiben einer Gewaltwelle im Westjordanland am „Nakba“-Tag (arabisch für „Katastrophe“) am 15. Mai. Zwar gibt es Zusammenstöße an den Checkpoints, aber sie laufen relativ glimpflich ab. In Ost-Jerusalem ist es völlig ruhig, die Palästinenser treten lediglich in einen Streik, von dem sie wissen, dass er kaum Wirkung zeigt. Auch Ahmad Muna (28) hat seinen Buchladen an der Salah-Eddin-Straße geschlossen, in dem er sonst politische Literatur mit Palästina-Schwerpunkt verkauft und Lesungen veranstaltet.

„Heute bin ich traurig und empört über das brutale Vorgehen der israelischen Armee in Gaza“, sagt Muna, ein hagerer Schnelldenker, der sein Englisch beim Studium in London gelernt hat. Die Palästinenser, meint er, seien komplett in der Hand der Juden. Abbas und seine Autonomiebehörde hält Muna für schwach. Deshalb setzt er auf einen gemeinsamen Staat. „Trotz allem bin ich voller Hoffnung, diesen Staat noch irgendwann zu erleben“, betont der 28-Jährige. „Denn die Dinge können nicht mehr sehr lange so weitergehen, wie sie heute sind.“

Und da sind auch junge Juden wie Orr Bernstein (27). Der athletische Student mit dem offenen Gesicht hat seinen dreijährigen Grundwehrdienst als Fallschirmjäger absolviert und lebt im Kibbuz Magen, der Heimat des Sicherheitsexperten Baruch Cohen am Gaza-Streifen. Vor Jahren schlugen hier Raketen der Hamas ein. Von Hass ist bei Bernstein trotzdem nichts zu spüren. Seine Mutter hält Kontakt zu Frauen auf der anderen Seite. Dort sind heute Menschen vom Rest der Welt abgeschnitten, die früher im Kibbuz gearbeitet haben. „Wir denken hier alle, dass wir in Frieden zusammenleben sollten“, sagt Bernstein. An einer Zwei-Staaten-Lösung zweifelt er zwar – nicht zuletzt wegen der Siedlungspolitik. Aber es müsse sich etwas ändern. „Natürlich sind beide Seiten für den Friedensprozess verantwortlich“, findet der Student. „Doch wir als Israelis müssen mehr tun als bisher.“

Dieser Artikel beruht zu großen Teilen auf einer Israel-Studienreise der Bundeszentrale für politische Bildung vom 5. bis 16. Mai 2018.

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