Präsident seit 15 Jahren Türkische Opposition könnte bei Präsidentschaftswahl überraschen

Istanbul · Bei der Parlaments- und Präsidentenwahl am Sonntag könnten die Erdogan-kritischen Kräfte überraschen. Das derzeitige Staatsoberhaupt verliert Unterstützung von jungen Wählern.

Recep Tayyip Erdogan setzt alles auf eine Karte. Bei den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag will der türkische Staatschef einen Systemwechsel durchsetzen, der ihm selbst weitreichende Machtbefugnisse sichern würde. Doch obwohl der 64-Jährige alle staatlichen Institutionen und einen Großteil der Medien auf seiner Seite hat, sieht er sich einer überraschend starken Opposition gegenüber, die seine Pläne durchkreuzen könnte: 15 Jahre nach Erdogans Machtantritt ist ein Regierungswechsel in der Türkei nicht mehr ausgeschlossen.

Erdogan hat die turnusgemäß erst im November nächsten Jahres anstehenden Wahlen vorgezogen, weil er die Opposition auf dem falschen Fuß erwischen wollte. Zudem hat er sich mit der Nationalistenpartei MHP verbündet. Mit der Doppelwahl für ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten will er durch ein möglichst eindeutiges Votum der 57 Millionen Wähler den Wechsel von der parlamentarischen Republik zu einem Präsidialsystem vollenden. In der Präsidialrepublik wäre der Mann an der Spitze nicht nur Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten würde abgeschafft. Der Systemwechsel war bei einem Referendum im vergangenen Jahr beschlossen worden, tritt aber erst mit der Neuwahl des Präsidenten in Kraft.

Damit würde der Präsident der Türkei über eine ähnliche herausgehobene Stellung im politischen System verfügen wie die Präsidenten der USA und Frankreichs in ihren jeweiligen Ländern – jedoch ohne die im Westen geltenden Machtbeschränkungen. Unter Erdogans Plan würde das Parlament viele Rechte einbüßen. Er argumentiert, das neue System werde das Regieren effizienter machen, insbesondere wenn Präsidentenamt und Parlament von einer einzigen politischen Kraft beherrscht werden. Kritiker sprechen dagegen von einem Marsch in die Diktatur.

Mindestens 50 Prozent der Stimmen nötig

Anders als erwartet ist der Wahlkampf für Erdogan und seine Regierungspartei AKP kein Spaziergang. Mehrere Umfrageinstitute sagen voraus, dass der sieggewohnte Staatschef bei der Präsidentenwahl am Sonntag die für einen Direktsieg nötige Marke von mindestens 50 Prozent der Stimmen verfehlen wird. In diesem Fall müsste sich Erdogan am 8. Juli einer Stichwahl gegen den stärksten Kandidaten aus der Opposition stellen. Für Erdogan, der in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten alle Wahlen eindeutig für sich entscheiden konnte, wäre das eine Demütigung, auch wenn er am Ende gewinnt.

Bei den Parlamentswahlen deuten sich ebenfalls Schwierigkeiten für Erdogan und die AKP an. Laut einigen Umfragen könnte die AKP ihre Mehrheit verlieren; selbst unter dem neuen System mit dem deutlich schwächeren Parlament könnte eine Volksvertretung mit Oppositionsmehrheit dem Präsidenten das Leben schwer machen. Deshalb wird schon jetzt über abermalige Neuwahlen in den kommenden Monaten spekuliert.

Dass Erdogan um die Zustimmung der Türken kämpfen muss, liegt zum einen an der Wirtschaftsentwicklung. Ein Kursverfall der Lira hat viele Importgüter deutlich teurer gemacht und Firmen mit Dollar-Schulden in Turbulenzen gebracht. Hinzu kommen eine steigende Inflation und eine hohe Arbeitslosigkeit. Erdogan selbst hat Investoren mit Äußerungen über eine stärkere politische Einflussnahme auf die nominell unabhängige Zentralbank zusätzlich verunsichert und damit die Talfahrt der Lira beschleunigt. Ein weiterer Faktor ist nach Erkenntnissen von Meinungsforschern die Tatsache, dass sich viele junge Wähler besonders in den Großstädten von der AKP abwenden. Bei älteren Konservativen bleibt Erdogan dagegen sehr beliebt.

Oppositionsparteien gründen Allianz

Auch das starke Auftreten der Opposition spielt eine Rolle. So greift die neue nationalistische IYI Parti (Gute Partei) das Bündnis aus AKP und MHP von der rechten Seite an. Die Säkularistenpartei CHP geht mit einem attraktiven Präsidentschaftskandidaten und neuen Ideen ins Rennen. Mehrere Oppositionsparteien werfen der AKP eine verfehlte Wirtschaftspolitik, Korruption und den Abbau demokratischer Rechte vor. So wie sich die AKP mit der MHP verbündet hat, haben drei Oppositionsparteien eine Allianz gegründet, was einen Machtwechsel im Parlament erleichtern könnte.

Im Rennen um das höchste Staatsamt hat sich CHP-Bewerber Muharrem Ince zur großen Überraschung des Wahlkampfs gemausert. Angriffslustig und rhetorisch geschickt malt der 54-jährige frühere Physiklehrer das Bild von einem ideenlosen und verbrauchten Präsidenten, der das Land gespalten hat. Ince verspricht, er werde das Land einen und niemanden ausgrenzen. Er hat erheblichen Anteil daran, dass die Opposition, anders als bei früheren Wahlen, diesmal eine Chance wittert, Erdogan zu besiegen. Entsprechend groß ist der Enthusiasmus bei den Erdogan-Gegnern – während in der AKP offenbar großer Frust herrscht. Sollte es eine Stichwahl um das Präsidentenamt geben, wäre Ince der wahrscheinliche Gegner von Erdogan.

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