Kommentar zu Flüchtlingen und EU-Gipfeln Sisyphos

Meinung | Bonn · Der EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel wird wieder einmal hinter den Erwartungen und Notwendigkeiten zurückbleiben.

 Ungleiche Partner: Angela Merkel mit Recep Tayyip Erdogan.

Ungleiche Partner: Angela Merkel mit Recep Tayyip Erdogan.

Foto: dpa

Es ist immer wieder das gleiche unehrliche Spiel: Weit vor einem EU-Gipfel wird das Treffen zu einem Entscheidungsgipfel hochstilisiert, und je näher das Datum rückt, desto mehr werden Erwartungen reduziert. Auch so beschädigt Politik das Ansehen von Politik.

Morgen also ist es wieder so weit: In Brüssel werden die 28 Staats- oder Regierungschefs über die Flüchtlingsfrage beraten und – so sind die Aussichten – es wird wenig entschieden werden. Eigentlich steht auf der Agenda die europäische Lösung des Problems – und die heißt in erster Linie: die europäische Verteilung der Flüchtlinge. Doch Angela Merkel hat dieses Thema gestern selbst faktisch von der Tagesordnung genommen. Wegen erkennbarer Aussichtslosigkeit und mindestens so erkennbarer „Lächerlichkeit“ - um die Bewertung der Kanzlerin zu übernehmen.

Sie hat bitter Recht. Denn es gibt eine Zahl, die die ganze europäische Unwilligkeit deutlich macht: 600. In Worten: sechshundert. Gerade mal 600 Flüchtlinge sind auf europäische Länder verteilt worden. 600 nicht von mehr als einer Million, die vergangenes Jahr allein in Deutschland ankamen, sondern 600 von 160 000. Denn auf diese Zahl zur Verteilung hatte man sich europäisch geeinigt – im vergangenen Jahr.

Es passiert europäisch also nichts. Genau genommen passiert sogar weniger als nichts, nämlich Rückschritt. Waren es zu Beginn der Debatte vor allem die mittel- und osteuropäischen neuen EU-Mitgliedsländer, die sich mit Händen und Füßen weigerten und Grenzzaun um Grenzzaun zogen – sie tun das auch heute noch –, so ziehen jetzt westeuropäische Staaten nach. Allen voran die Franzosen. Deutsch-französische Achse in Europa? Deutsch-französischer Achsenbruch!

Also steht Angela Merkel allein da. Deshalb setzt sie alle Energie in einen Deal mit der Türkei, den man auch schmutzig nennen kann. Geld gegen Menschenabwehr. Geld für einen türkischen Präsidenten, der einerseits immer mehr zum Despoten wird, andererseits durch die Entwicklung in Aleppo selbst immer mehr in die Flüchtlingszwangslage gerät. So ist Politik, zumal Krisenpolitik: Merkel kann sich ihr Verbündeten nicht mehr aussuchen. Sie kann froh sein, wenn sie überhaupt noch welche findet.

Und sie braucht diese Verbündeten dringend. Sie braucht die Hoffnung, dass all die vielen Einzelschritte doch noch zu einer Reduzierung des Flüchtlingsstroms führen. Was ein frommer Wunsch ist, denn noch ist Winter. Bricht der Frühling aus, wird das Meer mit Sicherheit wieder voller. Und im Frühling wird auch gewählt, in drei Bundesländern. Die Kanzlerin braucht bis dahin Erfolge – jenseits all des Geredes über Obergrenzen und eine Herrschaft des Unrechts. Nach dem 13. März laufen Ultimaten ab, nicht nur aus Bayern. Das sind noch gut vier Wochen. Angela Merkel läuft die Zeit davon.

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