EU Spielt London auf Zeit? - EU verlangt rasche Austrittsverhandlungen

London/Berlin/Brüssel · Das Brexit-Votum zum Ausstieg Großbritanniens aus der EU sorgt für heftige Turbulenzen. Online verlangen mehr als 1,5 Millionen Menschen eine zweite Abstimmung. Die Scheidungsverhandlungen haben noch nicht begonnen, da zeichnet sich im Königreich selbst ein Rosenkrieg ab.

 Protest in London gegen den Brexit-Befürworter Boris Johnson: Nun wollen nach Schottland auch die Bewohner der Hauptstadt unabhängig von Großbritannien werden.

Protest in London gegen den Brexit-Befürworter Boris Johnson: Nun wollen nach Schottland auch die Bewohner der Hauptstadt unabhängig von Großbritannien werden.

Foto:  Facundo Arrizabalaga

Deutschland und die anderen fünf Gründerstaaten der Europäischen Union machen nach dem Brexit-Votum Druck auf London, rasch Verhandlungen über einen Austritt Großbritanniens aus der EU zu starten. In der Europäischen Union wird befürchtet, dass London auf Zeit spielt.

Der britische Premier David Cameron hatte seinen Rücktritt bis Oktober angekündigt - die Verhandlungen soll erst sein Nachfolger führen. Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault forderte dagegen am Samstag einen neuen britischen Regierungschef "innerhalb weniger Tage".

Knapp 52 Prozent der Briten hatten in einem historischen Referendum am Donnerstag dafür gestimmt, dass Großbritannien als erstes Land überhaupt die EU verlässt. Gut 48 Prozent waren dagegen.

Mehr als 1,5 Millionen Briten forderten angesichts des knappen Ausgangs ein zweites Referendum. Eine offizielle Petition an das Parlament in London knackte am Vormittag die Millionenmarke, binnen Stunden kamen weitere 500 000 digitale Unterschriften dazu. Bereits 100 000 Unterstützer reichen, damit das Parlament eine Debatte zumindest "in Betracht ziehen" muss, wie es heißt.

Großbritannien droht zudem die Spaltung: Schottland bereitet ein Referendum für seine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich vor, wie Regierungschefin Nicola Sturgeon nach einem Krisentreffen ihrer Regionalregierung in Edinburgh erklärte. Damit solle Schottlands Platz in der Europäischen Union gesichert werden. Sturgeon sagte: "Das Kabinett hat zugestimmt, dass wir umgehend Gespräche mit EU-Institutionen und anderen EU-Mitgliedstaaten aufnehmen, um alle Möglichkeiten auszuloten, Schottlands Platz in der EU zu schützen."

Bei der Volksabstimmung hatte eine deutliche Mehrheit der Schotten für den Verbleib in der EU votiert. In einem ersten Referendum 2014 hatten noch 55 Prozent Schotten gegen eine Loslösung des nördlichen Landesteils von Großbritannien gestimmt.

Der britische EU-Finanzkommissar Jonathan Hill kündigte nach dem Brexit-Votum seinen Rücktritt an. Lord Hill (55) sagte, er sei sehr enttäuscht über das Ergebnis. "Da wir uns in eine neue Phase bewegen, glaube ich nicht, dass es richtig wäre, als britischer Kommissar weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre", erklärte er in Brüssel.

Der belgische Topdiplomat Didier Seeuws soll auf europäischer Seite die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien führen.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verlangte von der britischen Regierung Auskunft über das weitere Vorgehen im anstehenden Scheidungsprozess mit der EU. "Ehrlich gesagt, soll es nicht ewig dauern (...), aber ich würde mich jetzt auch nicht wegen einer kurzen Zeit verkämpfen", sagte Merkel nach einem Spitzentreffen von CDU und CSU in Potsdam.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) appellierte nach einem Treffen der sechs EU-Gründerstaaten in Berlin an London, bei den Verhandlungen mit Brüssel eine längere Hängepartie zu verhindern. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz warf Cameron in den ARD-"Tagesthemen" am Freitagabend vor, er nehme aus parteitaktischen Überlegungen einen ganzen Kontinent "in Geiselhaft".

In einer gemeinsamen Erklärung der sechs Außenminister zur Weiterentwicklung der EU ist nicht mehr ausdrücklich von einer "flexiblen Union" die Rede, die Raum lasse für Partnerländer, die weitere Integrationsschritte noch nicht mitgehen können oder wollen. In dem Papier heißt es, es solle anerkannt werden, dass es in den Mitgliedstaaten bei der europäischen Integration unterschiedliche Ziele gebe. Damit wolle man den Erwartungen der Bürger besser gerecht werden.

Zu den Gründerstaaten der EU, die im Jahr 1957 noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hieß, zählen neben Deutschland Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg.

SPD-Parteichef Sigmar Gabriel forderte, Europa müsse zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine "massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlieren" in der Europäischen Union, sagte der Wirtschaftsminister und Vizekanzler in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute. Gabriel schloss eine Rückkehr Großbritanniens in die EU nicht aus. "Fast drei Viertel der unter 25-Jährigen wollten in der EU bleiben. Wir dürfen die Zugbrücke nicht hochziehen", sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Sonntag).

Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sprach in der "Welt am Sonntag" von einem finalen Weckruf. Vor allem die jungen Menschen müsse die Politik im Blick haben. "Sie denken überwiegend europäisch, wie das Abstimmungsverhalten in Großbritannien gezeigt hat."

Ökonomen erwarten massive wirtschaftliche Einbußen in Europa. Am härtesten werde der Brexit die Briten selbst treffen, urteilte die Bertelsmann-Stiftung. Die US-Ratingagentur Moody's droht dem Land mit einer Abstufung seiner Bonität. Der Ausblick für die Bewertung der Kreditwürdigkeit des Landes wurde von "stabil" auf "negativ" gesenkt.

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