Kommentar zum Fall Litwinenko Schlüssig

Meinung · Der Fall des ermordeten russischen Dissidenten Alexander Litwinenko hat eine neue Wendung genommen. Ein Londoner Richter weist Präsident Wladimir Putin die Schuld an dem Mord zu.

Der Verdacht ist altbekannt und mit radioaktiven Giftspuren quer durch Europa belegt: Die russischen Geschäftsleute und Ex-KGB-Leute Andrei Lugowoi und Dmitri Kowtun haben dem Regimekritiker und Ex-KGB-Beamten Alexander Litwinenko im November 2006 in einer Londoner Hotelbar das Strahlengift Polonium in den Tee geschüttet. Und kein Wunder, dass schon Litwinenko auf dem Totenbett, später Scotland Yard und jetzt der unabhängige Richter Richard Owen denselben Schluss zogen: Die Mörder handelten im Auftrag des russischen Geheimdienstes FSB – mit Billigung von Wladimir Putin persönlich.

Laut den Ermittlungen stammte das sehr seltene Polonium 210 ja aus einem russischen Reaktor. Litwinenko, das Opfer, aber hatte in Artikeln und Interviews Putin und seinem Geheimdienst jahrelang haarsträubende Kapitalverbrechen vorgeworfen. In einem Buch warf er dem FSB vor, 1999 mehrere Wohnhäuser in Moskau und anderen russischen Städten in die Luft gejagt zu haben, um Stimmung für den neuen Krieg gegen Tschetschenien zu machen. Auch andere Regimekritiker, die diesen Vorwurf erhoben, kamen unter ungeklärten Umständen ums Leben. Litwinenko aber behauptete im Londoner Exil außerdem, Putin sein pädophil.

Trotzdem oder gerade deshalb ist der Verdacht im Mordfall Litwinenkos gegen Putin unerhört. Der russische Öffentlichkeitsbetrieb hat diesen Verdacht längst für tabu erklärt, genauso wie Litwinenkos eigene Vorwürfe gegen Putin.

Richter Owens Bericht aber legt überzeugend dar, ohne die Rückendeckung der obersten Chefetage sei ein solcher Alleingang nach den hierarchischen Regeln des russischen Geheimdienstes höchst unwahrscheinlich gewesen. Was den Verdacht gegen den damaligen FSB-Chef Nikolai Patruschew nur noch erhärtet – und gegen seinen direkten Vorgesetzten, den russischen Präsidenten…

Aber dieser Verdacht bleibt unerhört. Klar, Putin gilt wirklich nicht als netter, grundehrlicher Bursche von nebenan, seine Politik im Donbass oder in Syrien ist blutig, berechnend und hundsgemein. Politik ist nun einmal ein schmutziges Geschäft, auch demokratische Großmächte gehen beim Kampf gegen IS oder Taliban bekanntlich über zivile Leichen. Aber kämen etwa Obama oder die CIA auf die Idee, den in Moskauer Exil sitzenden Edward Snowden mit Hilfe einer als ukrainische Edelnutte getarnten Agentin zu ermorden?

Litwinenkos Strahlengifttod wirkt wie das Werk eines rachsüchtigen Sadisten. Aber mit Wladimir Putin, dem Staatsoberhaupt der Atommacht Russland, wird man weiter Politik machen müssen. Und die Politik verbietet es, manche Verdächtigungen zu Ende zu denken. Vielleicht auch deshalb hat Richter Owen in den entscheidenden Satz seines Berichtes das kleine, einschränkende, Wort „wahrscheinlich“ hineingeschrieben.

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