Der Traum von Freiheit Saudi-Arabien im Wandel

Madiha darf endlich Auto fahren. Jasmin denkt nicht mehr ans Auswandern. Und Imad will Heavy Metal nach Saudi-Arabien bringen. Eine Reise durch ein Land, das den Aufbruch vom Mittelalter Richtung Moderne wagt

 Die Aktivistin: Madiha al-Adschrusch im Auto. Für das Foto stand der Wagen in der Einfahrt geparkt – Frauen durften in Saudi-Arabien nicht Auto fahren. Das ist vorbei: Am 5. Juni nahmen die ersten Frauen ihre Führerscheine entgegen.

Die Aktivistin: Madiha al-Adschrusch im Auto. Für das Foto stand der Wagen in der Einfahrt geparkt – Frauen durften in Saudi-Arabien nicht Auto fahren. Das ist vorbei: Am 5. Juni nahmen die ersten Frauen ihre Führerscheine entgegen.

Foto: picture alliance / Oliver Weiken

Die Scheibe beschlägt vom Atem, doch das kümmert das Mädchen nicht. Die Nase ans Glas gedrückt, starrt es ungläubig in den Raum im Restaurant, den nur Männer betreten dürfen. Starrt auf diesen Typen, der so radikal anders ist als die anderen in Saudi-Arabien. Auf der Straße rufen sie ihm „Sohn des Teufels“ hinterher. Er trägt kein traditionelles Gewand, sondern ein schwarzes Shirt. Die krausen Haare fallen bis in den Rücken, der so breit ist, dass Imad Mudschallid kaum auf den Stuhl passt. Wenn der 37-Jährige auf der Bühne steht, lassen seine Schreie den Saal beben. In der saudischen Death-Metal-Szene heißt er „The Beast from the Middle East“.

Doch das Biest hatte jahrelang Angst. Vor der Religionspolizei, vor gesprengten Untergrund-Konzerten, vor Haft und Peitschenhieben. Auch wenn Imad beteuerte: „Ich bin Muslim und stolz darauf, in Mekka geboren zu sein“ – das ultrakonservative Land blieb hart. Zu ihm, zu Millionen anderen, die sich Wandel und Freiheit wünschten. Bis jetzt. Denn nun keimt Hoffnung im Königreich auf. Die Gesellschaft öffnet sich, von oben verordnet, der Moderne. Frauen dürfen seit Dienstag endlich Auto fahren wie in jedem anderen Land. In Kürze zeigen Kinos wieder Filme, es gibt Modenschauen und Comic-Messen. Das Land stehe unter Schock, sagen die jungen Saudis. Aber unter einem positiven.

Und Imad träumt. Es sei Zeit, sagt er, die Musik in seine Heimat zu holen: „Ich hoffe so sehr, dass ich der Erste sein werde, der ein Metal-Festival in Saudi-Arabien organisieren wird.“

Aus dem abgetrennten Familienbereich des Restaurants starrt ihn das Mädchen noch immer an. Herüberkommen darf es nicht – nicht in diesem Staat, in dem Männer und Frauen bisher so gut wie keine Möglichkeit haben sollen, sich über den Weg zu laufen. Doch das Prinzip der Geschlechtertrennung wird aufgeweicht. Abend für Abend ziehen Gruppen junger Frauen sowie Männer-Cliquen über die ausladenden Gehwege der feudalen Einkaufsstraße in der Hauptstadt Riad. Die Mädchen tragen zwar Abajas, die vorgeschriebenen schwarzen Gewänder. Doch häufig sind sie nicht voll verschleiert, zeigen ihre schüchternen Gesichter, manchmal auch die dunklen Haare. Mit den Jungs tauschen sie Blicke und lächeln, bevor sie verstohlen wegschauen. Ihre Freunde kichern.

Die Religionspolizei ist nur noch selten zu sehen

Ein Greis springt auf. „Nicht erlaubt, nicht erlaubt!“, ruft er und fuchtelt mit dem Finger in der Luft. Alle schauen ihn an, dann prustet er: „War nur ein Witz.“ Nun lachen auch die Umherstehenden erleichtert. Die entmachteten Sittenwächter der Religionspolizei ziehen nur noch selten durch Riad.

Madiha al-Adschrusch kann sich aber noch genau an den Angriff der Religionspolizei erinnern. Die Frau hatte die Türen des Autos verriegelt. Sie schlugen gegen die Scheiben, gegen die Karosserie. „Sie schrien: Ihr seid böse, schlechte Frauen und für nichts zu gebrauchen“, erzählt die heute 64-Jährige.

Al-Adschrusch hatte es gewagt, Auto zu fahren. Mit mehr als 40 Frauen trug sie ihre Wut gegen das Symbol der Unterdrückung im November 1990 erstmals auf die Straßen Riads. Sie habe nichts zu verlieren gehabt, erzählt die Aktivistin. Als Psychologin fand sie keinen Job. Auch ein Fotoatelier durfte sie nicht aufmachen.

Also nahm sie das Auto ihres Mannes und sagte: „Bitte kümmere dich um meine Töchter.“ In ihre Tasche packte sie Wechselkleidung, denn eine solche Fahrt würde im Gefängnis enden, da war sie sich sicher. Die Kolonne aus 14 Wagen rollte trotzdem los.

Madiha Al-Adschrusch blieb zwölf Stunden in Haft. „Es hätte schlimmer kommen können“, sagt sie heute. Draußen vor ihrem Haus steht ein Wagen samt Fahrer. Doch der Mann wird bald arbeitslos. Denn jetzt dürfen sich auch Frauen ans Steuer setzen.

Kronprinz Mohammed bin Salman ist treibende Kraft der Erneuerung

Als die Nachricht vom königlichen Dekret im Herbst um die Welt ging, wurde vor allem der junge Thronfolger gefeiert. Der erst 32 Jahre alte Kronprinz Mohammed bin Salman gilt als die treibende Kraft der Erneuerung. „MbS“, wie er in der Monarchie genannt wird, ist Saudi-Arabiens eigentlicher Herrscher – nicht der König.

Vor drei Jahren war er noch ein Prinz unter Hunderten, die Staatsgründer Abdul Asis Ibn Saud (1880-1953) und dessen Nachkommen mit zahlreichen Ehefrauen zeugten. Bis sein Vater in den Palast einzog. Der altersschwache König Salman brachte MbS als Nachfolger in Stellung. Und ließ ihn eine ungeheure Macht anhäufen. In Deutschland warnte der Bundesnachrichtendienst früh vor MbS' Temperament. Als Verteidigungsminister ist er für die Eskalation im Jemen-Krieg seit 2015 verantwortlich. Er gilt als Drahtzieher hinter der Blockade des Nachbarstaates Katar und einer Regierungskrise im Libanon im vergangenen Jahr. Auch der Konflikt mit dem Erzfeind Iran schwelt.

Innenpolitisch hat er die Energie und den Machthunger, um gigantische Reformen anzustoßen, die das wirtschaftliche Überleben Saudi-Arabiens sichern sollen. Ein Regierungsmitglied preist ihn als „Geschenk Gottes“.

Einen Heilsbringer hat das Land dringend nötig, denn ihm droht im schlimmsten Fall der Untergang. Nicht heute, nicht morgen, doch – wenn die Regierung tatenlos zusieht – eines Tages wohl zwangsläufig. Das Öl des Landes reicht nicht für ewig, und der Preisverfall riss in den vergangenen Jahren Milliardenlöcher in den Haushalt. Saudi-Arabien will sich mit einem radikalen Wirtschaftsumbau, der „Vision 2030“, von seiner Abhängigkeit lösen.

Anfang des Jahres führte die Regierung eine Mehrwertsteuer ein. Der Benzinpreis steigt. Und die Saudis sollen nach und nach die Jobs von Millionen Gastarbeitern – vor allem aus Asien – selbst übernehmen. Die ganz fetten Jahre der Ölmonarchie sind vorbei.

Die Geduld der Generation U30 neigt sich dem Ende zu

Gleichzeitig neigt sich die Geduld der Saudis unter 30, die die Mehrheit der Bevölkerung bilden, dem Ende zu. Viele haben im Ausland studiert. Sie nutzen das Internet intensiv, sind Teil der Globalisierung. Sie wollen haben, was sie aus dem Rest der Welt kennen.

Es war ein historischer Tag im Oktober, als Mohammed bin Salman sich an die Spitze dieser Bewegung stellte: „Wir wollen ein normales Leben“, sagte er auf einer Konferenz in Riad. Er formulierte es als Forderung, gab aber ein Versprechen: Ein „moderater Islam“ solle die radikale saudische Lesart, den Wahhabismus, einfangen. Destruktive Ideen würden „zerstört“. Das verkrustete Königreich stand Kopf.

In Dschidda, der Metropole am Roten Meer, ruft ein Muezzin zum Gebet. Seine Stimme aus dem Lautsprecher der Moschee dringt durch die leeren Straßen ins Haus. Imad Mudschallid drischt auf das Schlagzeug ein und übertönt den Gesang. Er verliert sich in der Musik. Den Mund halb geöffnet, streckt Imad die Zunge heraus, bis sich feine Perlen auf seiner Stirn bilden.

Es war vor vielen Jahren beim Autofahren, als er ein Gitarrensolo hörte, das sein Leben änderte. Er wollte mehr. Imads Bruder, ein Flugbegleiter, brachte ihm Kassetten aus dem Ausland mit. Brian Adams und die Scorpions. Später Iron Maiden, Judas Priest, Black Sabbath.

Ende der 90er Jahre wurde das Internet für Imad das Fenster zur Welt. Erstmals tippte er diesen Bandnamen in die Suchmaschine: Metallica. Die Vielfalt, die Genres und Subgenres, überwältigten ihn. Musik – aus dem öffentlichen Leben Saudi-Arabiens weitgehend verbannt – war für den Jugendlichen plötzlich nicht mehr nur Musik. Doch dem Glück, das er im Metal fand, stand die Brutalität eines Systems gegenüber, das nur die Angepassten belohnt. Immer wieder wurde Imad von der Religionspolizei befragt. Bei einer Kontrolle warfen Beamte ihm vor, mit Pornos zu handeln. Er wurde bepöbelt, auf der Straße und im Internet. „Ich habe mich gefühlt wie ein Krimineller“, sagt Imad.

„Es ist nicht fair, sich nicht wenigstens erklären zu können!“ Seine Stimme, in die sich ein heiteres Glucksen mischt, bekommt etwas Flehendes. Eine seiner Bands, mit der er in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Ägypten auftrat, nannte er Wasted Land – Verschwendetes Land. Auch in Saudi-Arabien spielte er Untergrund-Konzerte. Bis sie in einer der vielen Wohnanlagen in Riad – abgeriegelten Inseln der Freizügigkeit – an einem Abend des Jahres 2010 aufflogen. Ein Metal-Konzert war in vollem Gange, als die Religionspolizei aufmarschierte. Die beiden Organisatoren, Bekannte Imads, saßen anschließend für Monate in Haft, die Peitsche schlug 300 Mal auf ihre Körper.

Das echte Leben spielte lange nur hinter verschlossener Tür

Je dicker die Mauern, desto wilder die Partys: Das echte Leben spielte sich in Saudi-Arabien lange Zeit nur hinter verschlossenen Türen ab. Türen wie der von Jasmin Gahtani, deren weitläufiges Haus wegen eines Grunge-Konzerts vergangenes Jahr überfüllt war. Die allein-erziehende Mutter trägt blaue Chucks und löchrige Jeans, im Kinderzimmer hinter ihr hangeln ihre Zwillinge an einer Kletterwand. Seit der Scheidung kümmert sich die 39-Jährige alleine um die Kinder. Auch in Saudi-Arabien ist das nichts Ungewöhnliches mehr. Das Land hätte sie schon lange verlassen können, aber Auswandern sei vor allem jetzt kein Thema mehr. Es sei nun die Zeit, um zu bleiben. Die Menschen müssten nicht mehr wie eine Herde Schafe umherlaufen. „Und das werden sie zurück-geben“, ist sich Jasmin Gahtani sicher. Sie gibt jetzt Kletterkurse für Frauen.

Es sind die jungen Frauen und Männer, die die Machtbasis von Prinz Mohammed bilden. Ihre neuen Freiheiten werden zum Gegenwert, um einschneidende Reformen und verlorene Privilegien zu kompensieren. Zudem braucht MbS Frauen mit Führerschein als Arbeitskräfte und eine profitable Unterhaltungsindustrie für den Aufbau der Privatwirtschaft. Wie weit der Umbruch gelingt, weiß niemand. Klar ist nur, dass es keine politischen Zugeständnisse geben soll: Die Macht des Königs bleibt absolut. Gleichzeitig wendet MbS sich gegen das jahrhundertealte Bündnis der Herrscherfamilie Al Saud mit den Wahhabiten, den Vertretern einer der radikalsten Ausprägungen des Islam. Der Pakt mit den Geistlichen ist ein Grundpfeiler Saudi-Arabiens.

Für Mohammed bin Salman ist es deshalb ein gefährliches Spiel. Die Kleriker, die Alten, die Eliten, die Männer, Teile der weit verzweigten Königsfamilie: Viele im Wüstenstaat sind nicht begeistert, dass ein Königssohn aufkreuzt und das Land umsteuert. Doch öffentlicher Widerstand ist bislang nicht sichtbar.

Auch weil der Kronprinz jeden Dissens erstickt. Als er Hunderten Geschäftsleuten, Würdenträgern und sogar Prinzen Korruption vorwarf, trieb er sie monatelang im Ritz-Carlton in Riad zusammen. Das Hotel wurde als luxuriösester Knast der Welt bekannt.

Die Eliten, auch Politiker, halten sich deshalb noch bedeckter als sonst. Mit Journalisten zu sprechen, ist für viele zu riskant, keiner möchte den Unmut des Prinzen wecken. Niemand wolle „der Nächste“ sein, sagt ein Beamter auf dem Flur eines Ministeriums. Ein anderer erzählt, wie saudische Geschäftsleute kürzlich hilflos zu jungen Frauen herüberschauten, die sich in einem Café fläzten und Selfies machten. „Denen würde ich jetzt eigentlich was erzählen“, habe einer geseufzt. Aber „der da oben“ wolle das ja so. Er streckte den Zeigefinger gen Himmel und meinte Mohammed bin Salman. Saudi-Arabien befindet sich inmitten einer Zeitenwende aus Hoffnung und Angst. Viele sehen Chancen, andere fürchten um ihren Platz in der Gesellschaft. Eine explosive Mischung.

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