Gewalt in den USA Randale stürzt Baltimore ins Chaos

BALTIMORE · Es sind 15 nahezu ausgebrannte Häuser, 144 in Flammen aufgegangene Autos, 19 verletzte Polizisten, über 200 Festnahmen, Sachschäden in zweistelliger Millionenhöhe und ein Klima tiefster Verunsicherung und Angst.

 Polizisten und Demonstranten treffen aufeinander.

Polizisten und Demonstranten treffen aufeinander.

Foto: dpa

Baltimores Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake war die Last der schwersten Ausschreitungen seit fast 50 Jahren in der 630.000 Einwohner zählenden Küsten-Stadt 60 Kilometer nördlich von Washington am Morgen danach ins Gesicht geschrieben.

Die sonst elegant und selbstbewusst vor den Mikrofonen auftretende Afro-Amerikanerin wirkte apathisch und niedergeschlagen. Baltimore, seit zwei Wochen nach dem nach wie vor ungeklärten Tod eines jungen Schwarzen in Polizeigewahrsam latent in Aufruhr, ist in den Vereinigten Staaten über Nacht das neue Symbol für Rassenunruhen, Zwietracht zwischen Polizei und Bürgern und tonnenweise sozialen Sprengstoff geworden. "Ich kann nur hoffen, dass unsere Stadt zur Besinnung kommt", sagte Rawlings-Blake am Mittag, "die Selbstzerstörung darf nicht weitergehen." [kein Linktext vorhanden]

Anthony Mills, kurz R. A. gerufen, fürchtet, daraus wird nichts. Der gepflegt mit Fliege und Anzug gekleidete Sozialarbeiter zieht den Reporter aus Deutschland am späten Montagabend vorsorglich zur Seite, als an der Ecke North und Monroe-Street im ärmlichen Westens Baltimores der Mob tobt. Auf der anderen Straßenseite räumen vermummte Jugendliche gerade die letzten Kisten Bier und Hochprozentiges aus einem total demolierten Getränkehandel. Auf der Straßenkreuzung brennt ein Auto. Menschen laufen schreiend durcheinander. Streifenwagen werden aus der Dämmerung heraus mit Wackersteinen beworfen.

Über der ganzen Szene kreisen Hubschrauber von Polizei und Fernsehsendern. Hundert Meter weiter sieht ein bis an die Zähne bewaffneter Polizeitrupp tatenlos zu. "Das ist wie Krieg hier", sagt Mills, "aber über diesen Krieg darf sich wirklich niemand wundern."

Der 48-Jährige, Vater dreier Kinder, gehört zu denen, die das tragische Ende von Freddie Gray gewiss als Auslöser für das Chaos annehmen, das über Baltimore gekommen ist - "aber nicht als die wahre Ursache". Am 12. April wurde der 25 Jahre alt Gray, ein Afro-Amerikaner, wenige Blocks entfernt von der Polizei wegen einer Nichtigkeit festgenommen. Ein Video eines Passanten beweist, dass die Polizisten den Mann, der von der Hüfte an wie gelähmt wirkte, zu einem Streifenwagen schleifen.

Kurz darauf wird Gray in ein Krankenhaus eingeliefert, fällt ins Koma und stirbt eine Woche später an schwersten Wirbelsäulen-Verletzungen. Bis heute ist unklar, was genau Gray widerfahren ist. Sechs Polizisten sind vom Dienst suspendiert. Ein für den 1. Mai angekündigter Untersuchungsbericht ist verschoben worden. Nach Ferguson, New York, Cleveland und all den anderen Orten neuerlicher Polizeigewalt sieht sich nun das schwarze Baltimores als Zielscheibe. Und schießt zurück.

Am Montagmorgen hält Reverend Reverend Jamal H. Bryant in der New Shiloh Baptist-Kirche die Trauerrede auf Freddie Gray. 3000 Menschen sind gekommen. Die Stimmung ist gereizt, aber ruhig. Wenige Stunden später bricht die Hölle los. Von einer nahe gelegenen High-School ziehen Dutzende Teenager, angeblich durch ein Hetz-Flugblatt animiert, durch die Straßen. Sie werfen mit Steinen, randalieren. Kurz darauf folgen die ersten Plünderungen. Anthony Batts, der schwarze Polizeichef, wird später einräumen, dass die Protestler "uns in Überzahl überrannt haben". Mit Folgen.

Die Zerstörungswut kennt kaum Grenzen. Autos werden kurz und klein gehauen - und danach angesteckt. Vermummte sabotieren die Löscharbeiten der Feuerwehr, sie schlitzen die Wasserschläuche auf. Junge und Alte stürmen und verwüsten Geschäfte. Noch Stunden später sieht man sie mit ihrer "Beute" durch die Straßen ziehen. Selbst Bankautomaten werden kurzerhand aus der Wand gestemmt. Viele TV-Sender berichten live.

Präsident Obama und die frisch vereidigte Justizministerin Loretta Lynch werden im Zehn-Minuten-Takt informiert. Anthony Mills will nichts entschuldigen, nur erklären: "Das hier ist das Ergebnis von Jahrzehnten der Vernachlässigung und des Zerfalls. Diese Leute haben nichts anderes gelernt, als ihren Protest so drastisch auszudrücken." Seit David Simon wenige Straßenblocks entfernt die preisgekrönte und der Realität entlehnte Fernseh-Serie "The Wire" gedreht hat, weiß man, dass Baltimore das Gegenteil von Idylle ist. Mit über 230 Morden lag die im Volksmund "Charm City" genannte Arbeiterstadt 2013 auf Platz fünf der Liste mit den meisten Morden in Amerika. Über 60 Prozent der Bevölkerung sind schwarz.

Fast 60.000 gelten als drogenkrank. In Sandtown-Winchester, dem mit Holzlatten vernagelten Häuser-Meer, aus dem Freddie Gray stammt, sind "über 50 Prozent der 16- bis 36-Jährigen arbeitslos", berichtet Anthony Hayes, ein junger Abgeordneter im Parlament des Bundesstaates Maryland. "Über die Hälfte lebt unter der Armutsgrenze." Keine zehn Minuten mit dem Auto von dort funkeln in der Innenstadt die Sportpaläste der örtlichen Baseball- und Football-Teams. Rund um den für Millionensummen aufgehübschten Hafen, wo sich die Touristen tummeln, gibt es einige der besten und teuersten Restaurants Marylands. Hier Bonzen-Viertel, da Bruchbude. "Baltimores Gesichter sind zu krass verschieden", sagt Mills.

Dass hier die Beziehungen zwischen Polizei und Bürger angespannt ist, verwundert nicht. "Wie Hunde behandeln sie uns", schreit der 19-jährige Hakeem an der von Glassplittern übersäten Ecke Coppin- und Smallwood-Street, "jetzt sehen sie, was passiert, wenn man Hunde in die Ecke treibt."

Die Lokalzeitung "Baltimore Sun" hat ungewollt die Munition geliefert. Sie deckte auf, dass die Stadt allein in den vergangenen vier Jahre fast sechs Millionen Dollar Entschädigung zahlen musste - an die Opfer übermäßiger Polizeigewalt.

Bürgermeister Rawlings-Blake wagt trotzdem den Tanz auf dem Hochseil. Seit gestern gilt für Erwachsene zwischen 22 Uhr abends und 5 Uhr morgens eine Ausgangssperre. Jugendliche müssen bis 4. Mai ab 21 Uhr von der Straße verschwunden sein. Zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung hat sie bei Gouverneur Larry Hogan die Nationalgarde angefordert. 5000 Para-Militärs plus 5000 Aushilfs-Polizisten aus den Umlandgemeinden stehen ab sofort parat. Der Staat müsse "endlich Muskeln zeigen", heißt es im Rathaus. Anthony Mills beschleicht ein "ungutes Gefühl". Viele Menschen hier, sagt der in Baltimore geborene Mann, "haben nichts mehr zu verlieren."

Die Bevölkerung nimmt ab, die Kriminalität nimmt zu

Baltimore im US-Staat Maryland gehört zu den gefährlichsten Großstädten in den USA. Das FBI registrierte in den ersten sechs Monaten 2013 insgesamt 115 Morde. Das ein wenig größere Boston zählte im selben Zeitraum 24 Morde. 2012 lag Baltimore auf der Forbes-Liste der zehn gefährlichsten Städte auf Platz sieben - mit einer Gewaltverbrechensquote von 1417 pro 100.000 Einwohner. Platz eins belegte Detroit mit 2137. In Baltimore im Osten der USA leben knapp 621.000 Menschen. In den vergangenen Jahrzehnten sank Baltimores Einwohnerzahl deutlich.

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