"NGO-Wahnsinn" Trotz Tragödien im Mittelmeer wächst Kritik an den Rettern

Rom · Private Seenotretter finden sechs Leichen, ertrunken sind im Mittelmeer bei neuen Schiffbrüchen aber vermutlich erneut Hunderte Menschen. Trotz der neuen Katastrophen verschärft sich die Kritik an den Rettungsaktionen von Hilfsorganisationen.

 Mitarbeiter der Hilfsorganisation "Proactiva Open Arms" bei der Bergung eines toten Flüchtlings auf dem Rettungsschiff Golfo Azzurro vor der Küste Libyens.

Mitarbeiter der Hilfsorganisation "Proactiva Open Arms" bei der Bergung eines toten Flüchtlings auf dem Rettungsschiff Golfo Azzurro vor der Küste Libyens.

Foto: Proactiva Open Arms

Wieder werden nach mehreren Schiffbrüchen im Mittelmeer Hunderte Tote befürchtet. Trotz der neuen Tragödien, bei denen möglicherweise um die 300 Menschen ums Leben gekommen sein könnten, geraten private Seenotretter immer stärker in die Kritik.

"Der NGO-Wahnsinn muss beendet werden", forderte Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) am Freitag in Malta bei einem Besuch der Frontex-Mission. Viele Freiwillige würden sich zu Partnern der Schlepper machen, sagte Kurz - und äußerte sich damit ähnlich wie kürzlich der Chef der EU-Grenzschutzbehörde, Fabrice Leggeri.

Dabei waren es Nichtregierungsorganisationen, die am Donnerstag zur Unglücksstelle etwa 14 Seemeilen vor der libyschen Küste gerufen wurden, um Menschen aus Seenot zu retten. Ausmachen konnten sie nur noch fünf tote Körper. Am Freitag bargen sie eine sechste Leiche. "Angesichts der Tatsache, dass solche Schlauchboote normalerweise mit 120 bis 130 Menschen überladen werden, befürchten wir, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer weit höher ist und dass Dutzende Menschen mehr bei dem Unglück umgekommen sind", teilte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit.

Eine Sprecherin der deutschen NGO Iuventa Jugend Rettet berichtete der Deutschen Presse-Agentur, dass die Mannschaft nicht nur zwei, sondern drei Schlauchboote ausgemacht habe. "Es könnten also um die 300 Menschen gestorben sein", sagte Pauline Schmidt. Vermutlich sind alle Insassen von den Booten gerutscht und ertrunken. An den sechs gefundenen Leichen seien keine Spuren von Gewalt gefunden worden.

"Das Massaker von gestern erinnert uns daran, dass im Mittelmeer eine Tragödie stattfindet und bestätigt, dass Seenotrettung notwendig ist", twitterte der Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Flavio Di Giacomo, am Freitag. Nach seinen Angaben wird noch untersucht, ob die Migranten von der libyschen Küstenwache gerettet wurden. "Eine Tragödie, ein kollektives Scheitern", hatte die UNHCR-Sprecherin Carlotta Sami am Donnerstagabend getwittert.

Am Freitag kam ein weiteres Unglück abseits der zentralen Mittelmeerroute hinzu: Vor der türkischen Küste nahe der griechischen Insel Samos starben mindestens elf der 22 Insassen eines Schlauchboots. Sieben Migranten konnten gerettet werden, berichtete die türkische Nachrichtenagentur Dogan. Vier Menschen wurden noch vermisst.

Die neuen Unglücke ereigneten sich in einer Woche, in der Hilfsorganisationen in nur fünf Tagen 6000 Flüchtlinge und andere Migranten aus Seenot retteten, wie das UNHCR mitteilte. "Es ist ein kalkuliertes Sterbenlassen", sagte Joshua Krüger von der NGO Sea Watch der "Heilbronner Stimme". Die Rettungseinsätze der Militäroperation vor der Küste Libyens seien von der EU immer weiter zurückgefahren worden. Private Organisationen wie Sea Watch fühlten sich alleingelassen.

Gegen die Vorwürfe, ihre Arbeit führe dazu, dass mehr Flüchtlinge im Mittelmeer ums Leben kämen statt weniger, halten die Freiwilligen: So lange es keine legalen Fluchtwege nach Europa gebe, werde das Sterben im Meer nicht aufhören. Dabei wolle man nicht tatenlos zusehen. "Wir wären nicht hier, wenn wir nicht gebraucht würden", sagte Laura Lanuza, Sprecherin der NGO Proactiva Open Arms, die am Donnerstag fünf der Leichen geborgen hatte. "Wir füllen eine staatliche Lücke, wir leisten humanitäre und medizinische Arbeit, weil sie niemand anderes leistet", sagte Jugend-Rettet-Sprecherin Schmidt. Abhilfe könne nur ein Europäisches Seenotrettungsprogramm leisten.

Stattdessen versucht die Politik derzeit, über Vereinbarungen mit dem Bürgerkriegsland Libyen Flüchtlinge von der lebensgefährlichen Überfahrt nach Europa abzuhalten. Schlepper zwingen die Menschen oft mit Waffengewalt auf schrottreife und vollkommen überfüllte Boote.

Österreichs Außenminister plädierte abermals dafür, gerettete Flüchtlinge nicht mehr nach Italien zu bringen. Sie sollten nach australischem Vorbild gestoppt und in Flüchtlingszentren außerhalb der EU untergebracht werden. Doch Helfer schildern, dass in den Lagern in Libyen meist menschenunwürdige Zustände herrschen.

Seit Jahresbeginn überquerten nach UNHCR-Angaben fast 22 000 Menschen das Meer, im selben Zeitraum 2016 waren es etwas mehr als 18 700. Seit Januar starben demnach bereits mehr als 580 Menschen bei dem Versuch - das jüngste Unglück nicht mit eingerechnet. Die Zahl der Toten könnte weit höher sein, weil oft nicht klar ist, wie viele Menschen überhaupt auf den Booten waren. Die allermeisten Menschen starben auf der zentralen Route von Libyen in Richtung Italien.

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