Frankreich nach der Wahl Neuanfang vor historischer Kulisse

Paris · Nach seiner Wahl steht Emmanuel Macron vor einer riesigen Aufgabe: Das Land reformieren und das Volk vereinen. Eine Schonfrist erwartet er nicht.

Väterlich fasst Präsident François Hollande seinen jungen Nachfolger am Arm, tätschelt ihn am Rücken. Dieser blickt den scheidenden Amtsinhaber bewegt, fast dankbar an, dann demütig zu Boden. Lässt sich zum Triumphbogen an der Spitze der Champs-Élysées vor die Flamme des unbekannten Soldaten führen, wo an jedem 8. Mai eine symbolische Zeremonie stattfindet. Der Tag der Sieges über Nazideutschland erscheint diesmal bedeutend in vielerlei Hinsicht.

Ausgerechnet hier und zu diesem Anlass tritt Emmanuel Macron zum ersten Mal nach seinem Wahlsieg am Sonntag auf – jener Politiker, der einen Neuanfang wagen und Geschichte mit Moderne verbinden will. Mehr noch, der 39-Jährige hat den Franzosen versprochen, sie in eine neue Ära zu führen, dem Land, das seit langem in einem wirtschaftlichen und moralischen Tief festhängt, wieder Schwung und Optimismus mitzugeben.

„Die Aufgabe ist riesig“, verkündete Macron im Moment seines Triumphs, am Sonntagabend vor Zehntausenden jubelnden Anhängern auf dem Platz vor dem Louvre. „Ich will die Einheit unseres Volks und unseres Landes. Ich werde euch mit Liebe dienen.“ Sein hohes Ergebnis von 66 Prozent verdankt er auch dem Umstand, dass viele die Rechtspopulistin Marine Le Pen an der Macht verhindern wollten. Und so verfällt er am nächsten Tag nicht in Siegestaumel.

Bescheiden und mit feierlichem Ernst vollführt Macron vor der historischen Kulisse und an der Seite von Hollande seine ersten Handlungen als frisch gewählter Staatschef. Gemeinsam entfachen sie die Flamme unter dem Triumphbogen neu, bevor die Marseillaise erklingt. Sie werden flankiert von der alten Garde der Politiker, die von den Wählern abgestraft wurde. Sie alle hat Macron überholt.

Nun wird er den Vorsitz seiner Partei abgeben und nach der offiziellen Amtsübergabe an diesem Sonntag seinen Premierminister – oder seine Premierministerin – vorstellen sowie die Regierungsmannschaft. Strikte Geschlechtergleichheit will er einhalten, das halbe Kabinett soll aus Vertretern der Zivilgesellschaft bestehen. Doch bei den Parlamentswahlen im Juni könnte es zu einem erneuten Stühlerücken kommen.

Dann muss der Präsident mit der Partei regieren, die die Mehrheit in der Nationalversammlung erhält. Obwohl erst in dieser Woche alle Kandidaten von „En marche!“ bekanntgegeben werden, steht die Partei in Umfragen gut da: Demnach könnte sie mit rund 24 Prozent sogar siegen. Es wäre ein weiterer großer Vertrauensbeweis für den 39-Jährigen.

Bewegte Zeiten für Macron und die beiden Volksparteien

Doch sind die Franzosen dazu bereit? Zwar feierten ihn Tausende enthusiastisch als neuen Hoffnungsträger. Mehr als vier Millionen Menschen, also zwölf Prozent aller Wähler, warfen aber auch einen leeren Stimmzettel in die Urne, um zu signalisieren, dass sie hinter keinem der beiden Kandidaten standen. Rund ein Fünftel ging gar nicht erst wählen. Der smarte Jungpolitiker wird längst nicht einhellig im Land geliebt. Viele fürchten sich vor einer „ultraliberalen“ Politikauffassung.

Und was ist mit all jenen, die für seine Gegnerin stimmten? Der Philosoph Raphaël Glucksmann warnt vor übertriebenem Jubel darüber, dass die Franzosen sich gegen Abkapselung und Hass auf die anderen à la Le Pen und für Macrons liberale Weltoffenheit entschieden: „Wir haben den klinischen Tod verhindert, aber die Krankheit besteht weiter“ – also die Ursachen für die Wahl der Rechtspopulistin und die Zerrissenheit des Landes. „Es ist unendlich viel leichter für einen Bewohner eines modernen Pariser Stadtviertels, das europäische Projekt zu loben, als für einen Arbeitslosen, dessen Fabrik nach Rumänien ausgelagert wurde“, so Glucksmann. Macron habe den richtigen Ton getroffen; nun müsse er konkrete Vorschläge anbieten.

Das Hauptversprechen des künftigen Staatschefs besteht darin, der Wirtschaft schnell zu einem Aufschwung zu verhelfen. Reformen des Arbeitsrechtes und der Arbeitslosenversicherung könnten bereits in den kommenden Monaten anstehen. Sie drohen aber auf Widerstand zu treffen, zumal Macron sie teilweise mit Verordnungen umsetzen will, um Zeit zu sparen.

Unternehmen sollen etwa von einer Senkung der Sozialabgaben und der Körperschaftssteuer profitieren. Darüber hinaus sieht er ein Gesetz zur „Moralisierung“ der Politik vor, das Abgeordneten verbieten soll, ihre Angehörigen als Mitarbeiter aus der Staatskasse zu bezahlen – so wie das beim republikanischen Kandidaten François Fillon der Fall war. Auch sollen sie künftig ihre gesamten Bezüge versteuern müssen.

Auf Macrons Agenda steht zudem für eine Vertiefung der Europapolitik und vor allem der Eurozone; er wirbt für eine starke deutsch-französische Achse, aber auch für einen Euro-Finanzminister – und letztlich könnte die heikle Frage von Eurobonds wieder auf den Tisch kommen.

In Frankreich wiederum ordnet der Sieg von Macrons junger Bewegung die französische Parteilandschaft neu. Dem Front National wurden Grenzen aufgezeigt, obwohl ihm Marine Le Pen mit 33 Prozent der Stimmen und elf Millionen Wählern das beste Ergebnis seiner Geschichte verpasst hat: Trotz der Schlappe geht sie mit einer starken Dynamik in die Parlamentswahlen. Dasselbe gilt für Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, der angekündigt hat, eine „ökologische und humanistische“ Oppositionsbewegung stellen zu wollen.

Auch den beiden großen Volksparteien, die erstmals beide die zweite Runde einer Präsidentschaftswahl verpasst haben, stehen bewegte Zeiten und interne Diskussionen bevor. Werden sie bereit sein, Macrons ausgestreckte Hand zu ergreifen? Bauen sie lieber eine Oppositionskraft auf? „Es wird nicht jeden Tag leicht sein“, hat der Wahlsieger schon angekündigt. Eine Schonfrist erwartet er nicht. Schon die ersten Stunden haben gezeigt: Irgendwo zwischen Ungewissheit, verhaltener Euphorie und latentem Misstrauen muss sich das neue Frankreich unter Macron erst finden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Kosten über Sicherheit
Kommentar zum Einsturz der Brücke in Baltimore Kosten über Sicherheit
Zum Thema
Aus dem Ressort