Bürgerkrieg in Syrien Letzte Chance für Idlib

Istanbul · Ein Gipfeltreffen der Präsidenten von Russland, Iran und Türkei an diesem Freitag in Teheran könnte die letzte Chance sein, ein katastrophales Blutvergießen zu verhindern. Der Schlüssel für die Vermeidung eines Blutbades liegt möglicherweise bei der Türkei.

Im syrischen Bürgerkrieg droht ein blutiger Höhepunkt. In der Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei haben Luftangriffe von russischen und syrischen Kampfflugzeugen begonnen, bei denen bereits mehr als ein Dutzend Menschen ums Leben gekommen sind. Die Bombardements sind Vorboten der lange erwarteten Offensive auf die Rebellenhochburg, in der Hunderttausende Flüchtlinge leben.

Russland, Iran und die syrische Regierung wollen die Rebellenhochburg einnehmen und damit den Sieg von Präsident Baschar al-Assad im mehr als siebenjährigen Bürgerkrieg besiegeln. Offiziell gilt Idlib als „Deeskalationszone“, in der nicht gekämpft werden soll.

Doch wie bei Angriffen in anderen Teilen Syriens begründen Damaskus, Russland und Teheran die geplante Offensive mit dem Hinweis auf „Terroristen“, die nicht geschont werden dürften. Bis zum Jahresende soll den Rebellen die Kontrolle über das Gebiet entwunden werden.

Schlussakkord im Bürgerkrieg

Für Assad und seine russischen und iranischen Verbündeten wäre die Einnahme von Idlib der Schlussakkord im Bürgerkrieg: Nur in Idlib harren die Aufständischen noch aus. Im Osten des Landes herrschen zwar die syrischen Kurden mit Unterstützung durch die USA, doch die Kurden zählen nicht zu den Regimegegnern: Sie verhandeln mit Assads Regierung über eine Autonomieregelung.

Idlib ist nicht nur die letzte Bastion der Rebellen, sondern auch die problematischste. In der Provinz leben drei Millionen Menschen, viele von ihnen sind Flüchtlinge aus anderen Landesteilen Syriens, für die es keine andere Zuflucht innerhalb der Landesgrenzen mehr gibt. Zudem haben sich Idlib einige 10 000 hartgesottene militante Assad-Gegner gesammelt.

Zu ihnen gehört die Al-Kaida-nahe Miliz HTS, die weite Teile von Idlib beherrscht. Auch harren in der Gegend laut Medienberichten radikalislamische Kämpfer aus Tschetschenien und anderen Teilen Russlands und der früheren Sowjetunion aus: Moskau will diese Extremisten an der Rückreise nach Russland hindern und in Idlib liquidieren.

Während Assad und Putin in Idlib ihre Todfeinde besiegen wollen, kommt für die HTS-Kämpfer und andere Assad-Gegner eine Kapitulation nicht infrage: Diese Konfrontation erschwert die Bemühungen um eine Entschärfung der Lage. Die Türkei hat angeboten, die HTS und andere Milizen zu entwaffnen – doch es ist nicht klar, was anschließend mit den Kämpfern geschehen soll.

Kurz vor seinem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem iranischen Staatschef Hasan Ruhani am Freitag warnte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan deshalb, in Idlib drohe ein „Massaker“, das Hunderttausende Syrer – und gewaltbereite Extremisten – über die Grenze in die Türkei treiben könnte. Die türkische Armee hat bereits Panzerverbände in die Grenzregion geschickt.

Militärisch keine Möglichkeit

Militärisch hat Erdogan keine Möglichkeiten, auf Putin einzuwirken. Die rund 1000 türkischen Soldaten, die mit Genehmigung Moskaus und Teherans in Idlib stationiert sind, können gegen eine Großoffensive nichts ausrichten und wären im militärischen Ernstfall auch selbst in Gefahr. Doch völlig machtlos ist die Türkei nicht. Putin braucht die Türken als direkte Nachbarn der Syrer für seinen Plan, den Krieg möglichst bald zu beenden, Assad im Amt zu halten und Russland als Ordnungsmacht in Nahost zu etablieren.

Eine humanitäre Katastrophe in Idlib wäre ein Rückschlag für Putins Bemühungen, eine Formel für eine syrische Nachkriegsordnung zu finden und die Assad-Regierung auf internationaler Bühne wieder salonfähig zu machen, wie die Denkfabrik International Crisis Group jetzt anmerkte. Eine blutige Eroberung Idlibs könnte so zu einem Pyrrhus-Sieg für Russland werden – diesen Gedanken dürfte Erdogan bei seinem Gipfel mit Putin und Ruhani betonen.

Erdogans Ansatzpunkt ist der sogenannte Astana-Prozess, in dem die Türkei, Russland und der Iran gemeinsam über Gespräche zwischen der syrischen Regierung und Oppositionsvertretern wachen. Russland will in den Verhandlungen eine Nachkriegsordnung durchsetzen, bei der Assad im Präsidentenamt bleibt.

Die Türkei droht jedoch mit dem Rückzug aus dem Astana-Prozess, wenn es einen Großangriff auf Idlib gibt. Ohne Ankara als Garantiemacht würden sich die meisten Oppositionellen aus den Gesprächen zurückziehen: Russlands Strategie für die Nachkriegszeit in Syrien wäre gescheitert.

Wenn es überhaupt Wege gibt, den Großangriff auf Idlib zu verhindern, dann führen sie über diese politischen Überlegungen. Wie die erwartete Offensive so entschärft werden kann, dass sie Zivilisten schont, weiß derzeit allerdings niemand. Ein völliger Verzicht Assads und Putins auf einen Angriff in Idlib ist unwahrscheinlich. Viel Zeit für eine Lösung bleibt nicht: Assads Regierung will unmittelbar nach dem Syrien-Gipfel von Teheran mit der Offensive beginnen.

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