Türkei vor den Wahlen Leise Zweifel hinter lautstarken Parolen

Istanbul · Die Skepsis der Türken gegenüber einem Präsidialsystem bereitet der AKP nur wenige Wochen vor der Wahl Sorgen. Gibt es Pläne zur Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee?

Auf den ersten Blick läuft alles wie geschmiert für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Seine Wahlkampfauftritte vor der Volksabstimmung über das Präsidialsystem am 16. April ziehen Zehntausende begeisterte Zuschauer an, mit Nazi-Vergleichen zeigt er europäischen Politikern wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, was eine Harke ist, und die zu überwiegenden Teilen regierungstreuen Medien in der Türkei singen Loblieder auf den Präsidenten.

Und doch gibt es in Erdogans Partei AKP weniger als vier Wochen vor dem Referendum wachsende Zweifel. Offenbar wollen viele Türken trotz Sympathie für Erdogan dem Präsidialplan partout nicht zustimmen.

Die Umfragen ergeben kein eindeutiges Bild der Haltung der Wähler zu Erdogans Plan einer Präsidialrepublik mit weitreichenden Vollmachten für das Staatsoberhaupt. Regierungsnahe Institute berichten von einer Mehrheit von bis zu 57 Prozent für Erdogans Plan, während andere Demoskopen von einem Sieg des Nein-Lagers ausgehen. Fest steht, dass die AKP und die mit ihr verbündete Führung der Nationalisten-Partei MHP nicht auf alle ihre Wähler zählen können. Bei der vergangenen Parlamentswahl im November 2015 waren die beiden Parteien zusammen auf mehr als 60 Prozent der Stimmen gekommen.

Erdem Gül, Chef des Hauptstadtbüros der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ in Ankara, fasste am Montag die Ergebnisse unveröffentlichter Umfragen der AKP mit dem Satz zusammen, „Ja“ und „Nein“ lägen nur wenige Zehntel-Prozente auseinander. Der Oppositionspolitiker Mustafa Balbay sagte, nach seinen Beobachtungen wollten die Türken dem Präsidenten nicht noch mehr Machtbefugnisse ermöglichen.

Eine Analyse des für seine engen Kontakte zur Regierung bekannten „Hürriyet“-Kolumnisten Abdülkadir Selvi weist darauf hin, dass diese Einschätzungen mehr sind als nur Wunschdenken der Erdogan-Gegner. Das Schlagwort vom „Ein-Mann-Staat“ spielt beim Zögern so vieler Wähler offenbar eine große Rolle. Selbst AKP-Wähler fragen sich, was nach Erdogans aktiver Zeit mit einem Regierungssystem geschehen wird, das ganz auf ihn zugeschnitten ist.

Symbolische Abkehr vom Westen?

Auch ist die AKP nicht geschlossen. Frühere Spitzenpolitiker der Partei wie Ex-Präsident Abdullah Gül und der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sind als Gegner des Präsidialsystems bekannt. Bei der MHP sorgen sich viele, dass ihre Partei in einem Präsidialsystem in der Bedeutungslosigkeit versinken würde.

Ein weiteres Problem für die AKP liegt darin, dass die Entlassungs- und Festnahmewellen seit dem Putschversuch im vergangenen Juli auch viele ehemalige Erdogan-Wähler oder deren Familien getroffen haben.

Hinzu kommen Wirtschaftsprobleme wie die Krise im Fremdenverkehr und eine Arbeitslosigkeitsrate, die einen Sieben-Jahres-Höchststand erreicht hat. Fast 13 Prozent der Türken haben keine Arbeit; bei den 18- bis 24-Jährigen sind es 24 Prozent.

Als größte Oppositionspartei im Parlament warnt die säkularistische CHP vor dem „Ein-Mann-Staat“, hält sich aber mit persönlichen Angriffen auf den bei vielen Türken beliebten Erdogan zurück. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu behauptet zudem, nach einem „Ja“ beim Referendum wolle die Regierung mehrere Millionen syrische Flüchtlinge einbürgern.

In dieser Lage sollen Erdogans Attacken gegen die Europäer dazu beitragen, die AKP-Wähler bei der Stange zu halten. Auch der Plan einer Wahlkampfreise des Präsidenten nach Deutschland dient diesem Ziel. Die Erdogan-kritische Nationalistenzeitung „Sözcü“ will erfahren haben, dass der Präsident noch mehr vorhat. Erdogan werde möglicherweise noch vor dem 16. April die Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee umwandeln, wie das von Nationalisten und Islamisten seit Jahren gefordert wird. Ein solcher Schritt wäre gleichzeitig eine symbolische Abkehr der Türkei vom Westen.

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