Europa nach der Trump-Wahl Keine Zeit für Hochmut

Bonn · Europa kann nichts von Trump lernen. Aber es sollte sich mit den Trump-Wählern beschäftigen. Deren Angst vor dem sozialen Abstieg bewegt auch die Menschen zwischen Madrid, Athen, Paris, Rom und Berlin, von denen bald viele wählen werden.

Die Nachricht traf nicht wenige Menschen hierzulande am frühen Mittwochmorgen mitteleuropäischer Zeit wie ein Hammerschlag: Der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika heißt Donald Trump. An jenem Morgen gab es keine Antworten, nur unzählige Fragen an Frühstückstischen, in Pendlerzügen, in Bürofahrstühlen.

Auch unter den Kollegen der Journal-Redaktion des General-Anzeigers. Fragen über Fragen: Warum hat die Realität in Gestalt des US-Wahlbürgers jene der Medien, Politologen und Meinungsforscher widerlegt? Müssen wir uns vielleicht weniger mit Trump als vielmehr mit seinen Wählern beschäftigen? Haben Medien, Politologen und Meinungsforscher ihnen zu wenig zugehört?

Seit Monaten mühen sich Experten, uns das „System Trump“ zu erklären: Er sei der geborene Verkäufer, der selbst eine Millionen-Pleite als Sieg erscheinen lasse; er bediene sich einfacher Botschaften; er nähre die niederen Instinkte der weißen Unterschicht ebenso wie den diffusen Traum von einem neuen, starken Amerika, das sich von niemandem in der Welt auf der Nase herumtanzen lässt; er spiele brillant auf der Klaviatur der Internet-Plattformen; er schätze (seit der Trennung von seiner ersten Ehefrau Ivana) eine schlechte Presse höher als gar keine Presse, und womöglich hätten ihm sogar die deutlichen Clinton-Wahlempfehlungen großer Tageszeitungen mehr genützt als geschadet. Das deutsche Wort „Lügenpresse“ hat längst Einzug ins alltägliche Vokabular der US-Bürger gehalten.

Eine Welt aus Gewinnern und Verlierern

Trumps Vater, ein Bauunternehmer aus Queens, erklärte dem Sohn früh die Welt: Sie teile sich in Gewinner und Verlierer. Wer Gewinner sein wolle, müsse ein Killer sein. Also wurde Donald Trump ein Killer – und gewann. Aus Managerseminaren wissen wir, was zu diesem Gewinner-Weltbild auch gehört: dass „jeder seines Glückes Schmied“ ist – also im Umkehrschluss an seinem Elend selbst schuld.

In diesem Weltbild hängt „gewinnen“ und „verlieren“ nicht vom Zufall ab, sondern ist ein schonungsloses Qualitätsmerkmal desjenigen, dem es zustößt. Kann sein, dass der Gewinnertyp Trump dieses Denken mit der neuen Rolle nicht ablegt. Kann sein, dass sich die arbeitslosen Stahl-kocher in Pittsburgh und die verarmten Farmer in Idaho bald verwundert die Augen reiben werden.

Dies könnte uns Europäer zu Schadenfreude verleiten, zu Hochmut gegenüber diesem ach so dummen amerikanischen Wahlvolk. Doch zu Hochmut haben wir keinen Anlass. Vielmehr hat Europa keine Zeit zu verschwenden. Im Frühjahr wird in Frankreich gewählt, im nächsten Herbst ein neuer Bundestag. Das Ergebnis in Amerika empfinden Europas Populisten schon jetzt als Doping.

Schlagworte kritisch überdenken

Bevor es soweit ist, wäre den etablierten demokratischen Parteien in Frankreich, Deutschland und anderswo, den „Verantwortungs-Trägern“ und „Vordenkern“ und „Meinungs-Bildnern“ (was für Worte!) zu empfehlen, bestimmten Bevölkerungsschichten weniger hochmütig zu begegnen, weniger hochmütig auch gegenüber schichtenübergreifenden Bedürfnissen und Gefühlslagen. Es wäre zu empfehlen, dass jene, die sich selbst als „Elite“ sehen und gerne von den „einfachen Schlagworten“ der Trumps und Le Pens sprechen, ihre eigenen Schlagworte einmal kritisch überdenken.

Eines dieser Schlagworte ist zum Beispiel das von den „Heilsbotschaften“ (gerne mit „simpel“ davor, damit auch jeder die Kritik sieht). Bei denen, die da gemeint sind, kommt an: Ihr seid dumm, dass ihr das alles glaubt. Oder: Sich Heil zu erhoffen, ist verboten (für euch zumindest).

Seltsam, wo doch jeder Minister schwört, „den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren“. Oder die Schlagworte von der „Unter-“ oder „bildungsfernen“ Schicht. Bei denen, die da gemeint sind, kommt an: Ihr seid Bodensatz (und dumm sowieso).

Eines der simplen elitären Schlagworte sind auch die „Gefühle“ (gerne mit „diffus“ davor, damit auch jeder ... siehe oben). Bei denen, die da gemeint sind, kommt an: Ihr habt keinen Verstand. Doch ist es verboten, Gefühle zu haben? Haben Politiker etwa keine? Die Angst vor Überfremdung, vor einer unübersichtlichen Globalisierung, vor erzwungener Konkurrenz mit entlegenen Billiglohnländern, vor dem persönlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abstieg.

Auch Gefühle sind Fakten

Dass solche Dinge „Gefühle“ sind, macht sie nicht irrelevant. Auch ein Gefühl ist ein Faktum. Wer behauptet, Verantwortung zu tragen, muss sich um solche Fakten kümmern. Wer sie ignoriert, dem werden sie eines Tages nach einer Wahl in unerwarteten Prozentpunkten entgegenspringen.

Was ist sinnvoller: Zu versuchen, den Menschen zu helfen, die so fühlen (durch Überzeugungsarbeit oder, noch besser, durch Taten) – oder sie zu beschimpfen? Es bringt wenig, wenn ein Staatsoberhaupt einen Teil der Bevölkerung als „Dunkeldeutschland“ bezeichnet (zur Erinnerung: Das ist ein Wessi-Schmähbegriff aus den 90er Jahren für die östlichen Bundesländer).

Bei denen, die da gemeint sind, kommt an: Ich bin nicht für euch da. Und dann wundern wir uns, wenn die Leute antworten: Das ist nicht mehr unser Staat. Kein Anlass also für deutschen Hochmut gegenüber Amerika, wo es Hillary Clinton den Sieg gekostet hat, sich jahrzehntelang vor allem als „System“-Vertreterin zu profilieren.

"Dafür ist kein Geld da"

Auch der Verstand ist nichts Besseres. Auch der Verstand kann in die Irre führen – wie es jetzt Medien, Politologen und Meinungsforscher erfahren haben. Auch der Verstand hilft nicht dabei, manche Dinge zu erklären, die nicht nur den Wutbürger ärgern. Noch kein deutscher Politiker hat überzeugend erklären können, warum manche Menschen mit einem Acht-Stunden-Arbeitstag keine Ein-Kind-Familie ernähren können, sondern noch einen McJob dazu benötigen. Oder die „Soziale Marktwirtschaft“, einst Standardvokabel in der deutschen Wirtschaftswunderzeit: Warum benutzt sie keiner mehr?

Noch kein deutscher Politiker hat überzeugend erklären können, warum Banken samt ihren von Boni gesteuerten Investmentbankern mit 236 Milliarden Euro Steuergeld (so viel wie drei Viertel des deutschen Jahreshaushalts) im Handumdrehen gerettet werden – aber bei Bildung, Infrastruktur, Gesundheit und anderen Investitionen ins Gemeinwohl monatelang über die zweite Stelle hinter dem Komma gestritten wird.

„Dafür ist kein Geld da“, heißt es. Beim Zuhörer kommt an: Dafür wollen wir es nicht ausgeben. Dabei würde sich jeder Cent auszahlen – weil es die Menschen weniger anfällig für die Lock-Argumente der Populisten machen würde. Händeringend werden in Deutschland Altenpfleger gesucht. Wer sich aber für diesen harten, verantwortungsvollen Beruf entscheidet, wird mit einem lächerlichen Gehalt entlohnt. Ähnliches gilt für Krankenschwestern, für Polizeibeamte – und für viele, viele andere.

Darf es sein, dass Menschen Jahrzehnte gearbeitet und Beiträge gezahlt haben, aber nun das Gespenst der Altersarmut fürchten müssen? Von jungen Menschen, die sich nach einer qualifizierten Ausbildung von Praktikum zu Praktikum, von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangeln, heute in Berlin, morgen in Düsseldorf, übermorgen in Stuttgart, kann niemand erwarten, dass sie auch nur einen Gedanken darauf verschwenden, eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen, die eines Tages die Rente der Eltern bezahlen sollen.

"Nur" Protestwähler?

Manchmal heißt es auch, all diese Trump-Wähler und Brexit-Wähler und AfD-Wähler und Le-Pen-Wähler seien ja „nur“ Protestwähler. Leute, die der politischen Elite mit ihrer krisensicheren Altersversorgung mal eins auswischen wollen. Menschen, die sich wirtschaftlich abgehängt fühlen oder tatsächlich abgehängt sind, sich von den Eliten missachtet, verachtet, bestenfalls belächelt oder ignoriert fühlen; die seit der Griechenland-Rettung kein gutes Europagefühl mehr haben und sich von Experten bestätigt fühlen können, die die Einführung einer einheitlichen Währung ohne einheitliche Spielregeln als „Unfug“ kritisieren.

Wer hört, dass er seinen Job verliert oder einer Gehaltskürzung zustimmen soll, weil eine Firma irgendwo in Asien es ohne soziale Spielregeln preisgünstiger macht, wird kein Freund der Globalisierung.

Wo sind die ganzen Vorteile von Euro und Globalisierung hin, wo doch fast jeder sich in seiner eigenen Lebenswirklichkeit von Sparzwängen umzingelt sieht, von „Arbeitsverdichtung“ oder „Optimierung betrieblicher Abläufe“? Die Mittelschicht: Wo wird sie bleiben? Laut regelmäßig veröffentlichten Statistiken verflüchtigt sie sich. Das heißt: Ungerechtigkeit ist ein Gefühl, das die Fakten bestätigen. Das große Gefühl wächst: Es stimmt etwas nicht. Warum lässt die Politik, die bei Trump-Wählern „Establishment“ heißt, das zu?

Es wäre wichtig, den Nährboden des Protestwählens zu erkunden und ernstzunehmen. Wer den Polit-Talkshows der Öffentlich-Rechtlichen, im Rundfunkrat beherrscht von Staats- und Parteienvertretern, zuhört, der erlebt, wie offenkundige Missstände manchmal kleingeredet werden oder auf konkrete Fragen mit der Ablenkphrase „Lassen Sie mich zunächst einmal ...“ geantwortet wird.

Ungewohnte Richtung der Verachtung

Dann beklagt der Gast auf dem Sofa die Faktenferne von Facebook, Twitter und Co. – und der Zuschauer gewinnt bald den Eindruck, dass auch Politiker gelegentlich fernab der Fakten leben. Sind gesetzlich Versicherte Patienten zweiter Klasse? Haben wir einen Pflegenotstand? Nein, sagen die Politiker; aber am nächsten Morgen erlebt der Kassenpatient, der um einen Termin beim Facharzt nachfragt, oder der Angehörige eines Pflegebedürftigen genau das Gegenteil.

Manchmal mag die eine oder andere Frage naiv oder ahnungslos klingen. Aber Politiker, die sich an gesellschaftlichen Missständen rhetorisch vorbeimogeln, zeigen Verachtung für die Betroffenen. Da verwundert es kaum, wenn auch die reflexhaft antworten – mit Vokabeln wie „Lügenpresse“ und „Systemparteien“. Da bricht sich Verachtung von unten nach oben Bahn – eine bislang ungewohnte Richtung.

Wenn sich diese in Mode gekommene Verachtung manifestiert, das Vertrauen zu geistigen, wirtschaftlichen und politischen Eliten endet, möglicherweise Hohn in Hass umschlägt, am Ende alles gehasst wird, was anders ist als man selbst – dann ist der Grundkonsens einer Gesellschaft zerstört, auch das Vertrauen in das demokratische Modell.

Wir Deutschen müssten es besser wissen als andere – müssten wissen, was es bedeuten kann, wenn die sogenannte schweigende Masse von Populisten und Welt-Vereinfachern wachgeküsst wird – und sei es „nur“, um die eigene Politikverdrossenheit zu überwinden und zur Wahl zu gehen. Am nächsten Morgen kann dann plötzlich alles anders sein, sind aus „Denkzettel“-Stimmen ganz neue Fakten entstanden. Alle müssten das wissen: Regierte und Regierende, die sogenannten Volksparteien und auch die Medien. Jeder trägt seine spezifische Verantwortung.

Am Morgen danach war das Wahlergebnis auch Diskussionsthema im Ressort Journal. Der Text spiegelt die Gedanken der Redakteure Wolfgang Kaes, Wolfgang Pichler, Moritz Rosenkranz und Wolfgang Wiedlich.

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