Besuch in Memphis Am Mittwoch vor 50 Jahren wurde Martin Luther King ermordet

Memphis · Vor 50 Jahren wurde der Bürgerrechtler Martin Luther King in Memphis ermordet. Unser USA-Korrespondent hat die Südstaaten-Metropole ein halbes Jahrhundert später besucht.

 Immer noch hochaktuell: Ein junger Demonstrant protestiert 2016 in Atlanta/Georgia mit einem Foto von Martin Luther King.

Immer noch hochaktuell: Ein junger Demonstrant protestiert 2016 in Atlanta/Georgia mit einem Foto von Martin Luther King.

Foto: dpa

Die Wanne ist schäbig und voller Flecken, die grün-braune Farbe an den Wänden abgeplatzt. Das Schiebefenster steht eine Handbreit offen. Es ist der 4. April 1968. 18 Uhr. Von diesem Badezimmer des Appartements 5 b einer billigen Absteige aus legt James Earl Ray mit einem Remington-Gewehr auf eine Gruppe schwarzer Männern an, die keine 100 Meter entfernt auf der anderen Seite der Mulberry Street vor Zimmer 306 des Lorraine Motel in Memphis etwas frische Luft schnappen und sich auf das Abendessen freuen.

Als ein Schuss die Stille zerreißt.

Dr. Martin Luther King, der gerade noch einen befreundeten Musiker gebeten hat, am späteren Abend bei einem Protestmarsch das Lied "Precious Lord, Take My Hand" besonders schön zu singen, geht vor dem grün gestrichenen Geländer zu Boden. Das Projektil durchschlägt unmittelbar unter dem Kinn den Hals und durchtrennt sein Rückenmark. Eine Stunde später wird im Krankenhaus der Tod festgestellt. Der charismatischste Führer der Afroamerikaner in den USA wird nur 39 Jahre alt.

Alles originalgetreu nachgestellt

Ein halbes Jahrhundert später spürt der Besucher im 1991 eröffneten National Civil Rights Museum, untergebracht im früheren Lorraine Motel und dem Boardinghouse gegenüber, wie sich beim Betreten des Unglücks-Ortes die Haare auf den Unterarmen aufstellen. Alles, bis hin zum kalten Kaffee und den ausgedrückten Zigarettenkippen im Zimmer, ist hier originalgetreu nachgestellt.

Museumsführer Logan, damals 17, ein in Ehren ergrauter Schwarzer, kämpft mit den Tränen, als er sich an die Beerdigung am 9. April erinnert. "200 000 Menschen kamen. Mahalia Jackson sang. Der Sarg lag auf einem von zwei Eseln gezogenen Sharecropper-Karren, wie sie früher die Plantagenpächter benutzt haben. Der Doktor wollte es so."

King ist in die Blues-Metropole gekommen, um die Bürgerrechtsbewegung zur sozialen Speerspitze über Rassenschranken hinweg zu formen und ihr so neuen Sinn zu geben. Zu helfen gilt es den 1300 streikenden, überwiegend schwarzen Arbeitern der städtischen Müllabfuhr. Sie fordern nach einem schweren Unfall mehr Sicherheit, mehr Geld - und vor allem mehr Respekt.

"I'm a man"

"I'm a man", ist die programmatische Aussage - gegen die von den Weißen aus der Sklavenzeit hinübergerettete Anrede: "Boy". King, diesmal nicht nur Streiter für Recht und Gesetz, fordert in sozialdemokratischer Manier eine "radikale Umverteilung der wirtschaftlichen Macht". Für seine "Kampagne der armen Leute" spricht er am 3. April abends in der örtlichen Mason-Temple-Kirche. Die Besucher hängen an seinen Lippen. Sie hören düstere und zugleich gleißend hell strahlende Worte, die im Rückblick wie Vorahnung und Vermächtnis wirken.

King, sichtbar am Ende seiner Kräfte, spricht von Morddrohungen. "Wie jeder würde ich gern leben, ein langes Leben", ruft er, "aber das kümmert mich jetzt nicht." Gott habe ihm gestattet, "den Berg zu erklimmen, und ich habe das gelobte Land gesehen", predigte er mit donnernder Stimme fast wie in Trance: "Ich mag vielleicht dort nicht mit euch hingelangen, aber ich möchte, dass ihr wisst, dass wir als Volk dorthin gelangen werden." Die "Mountain-Top-Rede" war seine letzte.

Die Anfänge des 1929 in Atlanta geborenen Pastorensohnes, des studierten Theologen und Vaters von vier Kindern sind eng mit dem Schicksal einer couragierten Näherin verbunden. King tritt als 26-Jähriger seine erste Pfarrstelle in der Dexter Avenue Baptist Church in Montgomery an. Die Stadt in Alabama ist, neben Birmingham, eine der Hochburgen des feindselig gelebten Rassismus, für den insbesondere der Ku-Klux-Klan steht. Schwarze und Weiße gehen dort in getrennte Schulen, essen in getrennten Restaurants und benutzen getrennte Toiletten.

Als sich die resolute Näherin Rosa Parks in einem Akt zivilen Ungehorsams weigert, ihren Sitzplatz im Bus an einen Weißen abzutreten, kommt sie ins Gefängnis. Es ist das Jahr 1955. Eine beispiellose Protestwelle kommt in Gang. 381 Tage lang meiden Montgomerys Schwarze öffentliche Verkehrsmittel. Sie wollen sich nicht weiter demütigen lassen. Martin Luther King koordiniert den Boykott. Mit großem Erfolg. 1956 hebt der Oberste Gerichtshof in Washington die Diskriminierung in Bussen auf.

Zweifel an James Earl Ray als Alleintäter

Bis zu seinem letzten Atemzug am 22. April 1988 in einem Gefängnis für kranke Strafgefangene in Tennessee versuchte James Earl Ray die Welt von seiner Unschuld zu überzeugen. Der in armen Verhältnissen aufgewachsene Weiße, ein bekennender Rassist, ein Bankräuber und Gefängnisausbrecher, war zwei Monate nach dem Attentat auf Martin Luther King auf der Flucht am Londoner Flughafen Heathrow mit gefälschten Papieren festgesetzt und an die USA ausgeliefert worden.

Im März 1969 legte er im Gericht in Memphis ein Geständnis ab. Was ihm statt der Todesstrafe 99 Jahre Freiheitsentzug eintrug. Schon kurz danach zog Ray, der sich am Tag der Tat unter dem falschen Namen John Willard gegenüber des Lorraine eingemietet hatte, seine Selbstbezichtigung zurück: "Ich war nicht der Täter." Wechselnde Anwälte stützten sich in den Folgejahren auf die Tatsache, dass es keine seriösen Zeugenvernehmungen gab. So entstand die Legende vom Komplott, in dem die üblichen Verdächtigen hinter dem Mord gestanden haben sollen.

Allen voran die Bundespolizei FBI. Deren machiavellistischer Boss J. Edgar Hoover hielt King für einen Kommunisten, eine Bedrohung der nationalen Sicherheit. Die außerehelichen Eskapaden des Geistlichen nutzte Hoover, um ihn mit einer Verleumdungs- und Überwachungskampagne zu überziehen. Andere Zeitzeugen vermuteten das Militär, die Polizei und/oder die kriminelle Unterwelt, das organisierte Verbrechen, die Mafia, hinter dem Anschlag.

Im National Civil Rights Museum sind eindrucksvolle Schautafeln installiert, die akribisch alle Lücken, Ermittlungspannen und offene Fragen auflisten. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um nach dem Museumsbesuch an der Alleintäterschaft zu zweifeln, die von mehreren, bis ins Jahr 2000 einberufenen Untersuchungskommissionen bestätigt wurde. Kings Witwe Coretta, die 2006 starb und neben ihrem Mann in Atlanta beerdigt ist, war bis zuletzt fest davon überzeugt, dass James Earl Ray nicht der Mörder war. Und schon gar nicht als Einzeltäter.

Das Ziel bleibt in weiter Ferne

Als Martin Luther King stirbt, hat die von ihm geprägte Bürgerrechtsbewegung nahezu alle Ziele erreicht - auf dem Papier. Angefangen von der historischen Gerichtsentscheidung "Brown v. Board of Education", mit der die Rassentrennung an Schulen aufgehoben wird. Dann Rosa Parks und der Bus-Boykott. 1960 in Greensboro/North Carolina der Sitzstreik gegen die nach Hautfarbe unterschiedliche Behandlung in Restaurants. 1964 das Bürgerrechtsgesetz, mit dem Diskriminierung am Arbeitsplatz gestoppt werden soll. King erhält den Friedensnobelpreis. 1965 wird der afroamerikanischen Bevölkerung durch den "voting rights act" bei Wahlen das volle Stimmrecht zugestanden.

Dazwischen, am 28. Augst 1963, liegt eine Sternstunde der jüngeren Menschheitsgeschichte. Vor 250 000 Zuhörern hält King in Washington seine wirkungsmächtige "I have a dream"-Rede:

"Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihres Glaubens lebt: Für uns soll als selbstverständlich gelten, alle Menschen sind als gleich geschaffen." Und: "Ich träume, dass eines Tages meine vier kleinen Kinder in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt."

Vor seinem Tod fünf Jahre später ist von dieser Euphorie nicht mehr viel übrig. Die Erfolge, das wird King immer bewusster, sind nur Zwischenschritte. Das Ziel - soziale Gerechtigkeit und Teilhabe auf Augenhöhe - bleibt in weiter Ferne. Auch darum wirkt das Attentat wie Kerosin auf offenes Feuer. In 125 Städten landesweit explodiert die Gewalt. Plünderungen, Brände, Verwüstungen. Ganze Straßenzüge in Chicago und Washington werden zu innerstädtischen Kriegszonen. Fast 50 Menschen sterben, rund 3000 werden verletzt.

Niemand konnte King ersetzen

Der Bürgerrechtsbewegung raubte der Mord das Herz und das Gehirn. Weil niemand King ersetzen konnte, der Zeit Lebens 2500 Proteste organisierte und 30 Mal ins Gefängnis ging, rührten sich die Kritiker in den eigenen Reihen. Sie standen schon vorher mit Kings Dogma der von Mahatma Ghandi entliehenen Gewaltfreiheit auf Kriegsfuß. Junge Führer wie Malcolm X oder die Black Panther Party radikalisierten ihre Anhänger und propagierten einen "schwarzen Nationalismus".

Faith Morris, die wunderbar streitbare Leiterin des National Civil Rights Museum in Memphis, sagt im Gespräch mit dem General-Anzeiger, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten "viel zum Vorteil der Schwarzen verändert hat"; in Memphis etwa sei der Anteil der Schwarzen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, von 60 auf 30 Prozent gesunken. Aber alle entscheidenden Parameter - der Anteil der Inhaftierten, die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss, Durchschnittseinkommen, Lebenserwartung - hätten eine "Negativ-Entwicklung genommen".

In den Schulen nehme die Rassentrennung wieder zu, was "Aufstiegschancen verhindert". Polizeigewalt gegen Schwarze sei "überproportional hoch". Und der Versuch der Regierung Donald Trumps, zu Ungunsten der Schwarzen an den Stellschrauben der Wahlgesetze zu drehen, sei "unverkennbar".

Vor den Feierlichkeiten am 4. April, die der Besuch des ersten schwarzen Justizministers in der Geschichte der Vereinigten Staaten, Eric Holder (unter Obama), krönen soll, sagt die quirlige Museumsleiterin: "Wer sich umschaut, der sieht: Der Traum, von dem Dr. King gesprochen hat, der Traum von einem Amerika ohne Rassenschranken, er ist ein Traum geblieben."

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