Kommentar zu Russland nach der Wahl Gebremste Vorwürfe

Meinung | Brüssel · Die russischen Reaktionen auf den Nervengiftanschlag auf den ehemaligen Doppelagenten und seine Tochter stecken voller Widersinn. Dennoch darf die EU sich nicht auf Glauben oder Vermuten stützen. Ein Kommentar von Detlef Drewes.

Im Kreis der EU-Außenminister gibt es niemanden, der zweifelt. Dass Moskau hinter dem ersten Nervengifteinsatz auf europäischen Boden seit über 70 Jahren steht, gilt als sicher. Doch in letzter Minute haben die Helfer der Außenamtschefs im Hintergrund den feinen, aber wichtigen Unterschied zwischen Behauptung und Feststellung eingebracht. Und so vermieden es die Chefdiplomaten am Montag, Russland als Täter zu benennen.

Denn jetzt ist die Stunde der Spezialisten für dieses fürchterliche Gift, mit dem der ehemalige Doppelagent und seine Tochter am 4. März in Salisbury in Berührung kamen. Sie müssen klären und herausfinden, wohin der Fingerabdruck des Kampfstoffes weist, der angeblich nie produziert und dennoch vernichtet wurde und trotzdem außer Landes gelangen konnte.

Tatsächlich stecken die russischen Reaktionen voller Widersinn. Doch die EU darf sich nicht auf Glauben oder Vermuten stützen. Die Sündenliste des Kremls, die nicht erst bei der Annexion der Krim beginnt und über den anhaltenden Konflikt in der Ostukraine bis hin zu Hackerattacken auf das Datennetz der Bundesregierung reicht, ist lang genug. Wer Moskau bestrafen will, braucht Gründe, keine Gerüchte.

Dabei täte die Union auch gut daran, ihre eigene Doppelmoral auf den Prüfstand zu stellen. Denn trotz der jetzt schon bestehenden Sanktionen, die sich vor allem gegen die Führungskader um Präsident Wladimir Putin richten, verläuft die ökonomische Zusammenarbeit deutlich besser, als die politische Großwetterlage vermuten ließe.

Hiesige Unternehmen können ihre russischen Geschäfte weiter abwickeln, Moskaus Konzerne befinden sich weiter auf Einkaufstour in Europa. Wirtschaftliche Einbußen gibt es, aber die haben lange nicht jene Ausmaße, die man vermuten könnte. Moskaus Rückkehr auf einen Pfad, der mehr politische Zusammenarbeit ermöglichen würde, scheint immer noch Lichtjahre entfernt. Und es nicht abzusehen, dass Putin – von der Last der Wiederwahl befreit – sich nun von seiner einsichtigen Seite zeigen könnte.

Was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass hybride Kriegsführung endgültig in die internationale Gemeinschaft Einzug gehalten hat. Cyberattacken – schon das Wort klingt immer noch ein wenig nach ausgeflippten Hacker-Nerds, die sich einen Spaß machen, gegnerische Computer lahmzulegen. Dabei geht es längst um kriegerische Anschläge auf die Lebensadern der modernen Gesellschaft, die ohne Internet kollabiert. Nicht nur Moskau hat sich dieser Waffe längst erfolgreich bemächtigt. Nato, EU, die Mitgliedstaaten – sie sind nicht wehrlos.

Das zeigt die Erfolgsbilanz bei der Abwehr solcher Angriffe. Aber klar ist auch: Die Waffen des digitalen Zeitalters mögen sich verändert haben. Der Satz, dass nicht das Militär, sondern die Politik Frieden schaffen muss, bleibt. Der Westen braucht Moskau und umgekehrt. Selbst schlechte Gespräche sind besser als gar keine.

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