Kommentar zum britischen EU-Referendum Exit Nr. 1

Meinung · Der britische Austritt aus EU-Europa ist nicht das Ende der Europäischen Union, aber er könnte der Anfang vom Ende werden. Das erklärt auch die überaus heftige Reaktion.

Denn die Entscheidung der britischen Wähler hat nicht nur tiefgreifende Bedeutung für die Insel selbst und das Verhältnis Kontinentaleuropas zu Großbritannien, sondern für die ganze Union. Das Gefährliche des Votums liegt darin, dass es eben nicht spezifisch britische Gründe sind, die den Ausschlag für den Austritt gegeben haben, sondern dass es einer europakritischen, partiell isolationistischen Grundströmung entspricht, die in vielen Staaten der EU zunimmt.

Großbritannien selbst steht nach diesem 23. Juni, den manche in Verkennung der realen Abhängigkeiten schon als „Unabhängigkeitstag“ gefeiert wissen wollen, nicht geeint, sondern zerrissen da, bis hin zu der Gefahr, dass das Vereinigte Königreich eines Tages nicht mehr geeint sein könnte – man denke nur an das so eindeutige proeuropäische Votum der Schotten.

Dass Premier David Cameron, der das Desaster in fahrlässiger Selbstüberschätzung verursachte, gestern sofort seinen Rücktritt ankündigte, ist da pure Selbstverständlichkeit. Er geht jetzt als der Mann in der Geschichte seines Landes ein, der es wider Willen aus der EU herausbrach. Eines Landes, dessen Winston Churchill die Idee der Einheit Europas aufbrachte und dessen Margaret Thatcher, die wie niemand zuvor die euroskeptischen Tendenzen ihrer Landsleute aufnahm.

Was mit Großbritannien passiert, ist das Eine, was mit der EU passiert, das Andere – und das für die EU Wichtigere. Ganz schnell müssen sich jetzt die Blicke auf Frankreich richten. Dort gewinnt unter Führung von Marine Le Pen Tag für Tag die rechtspopulistische, fremdenfeindliche und eurokritische Strömung an Einfluss. Sollte Le Pen tatsächlich im kommenden Jahr die Präsidentschaftswahl gewinnen, steht es noch viel ernster um die EU als am gestrigen dunklen Freitag. Denn Frankreich ist – anders als Großbritannien – Kerneuropa.

Alle Gedankenspiele von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten, von abgestufter Integration, sind Makulatur, wenn auch Frankreich geht. Dann ist die EU im Kern bedroht. Nicht zu vergessen die Entwicklungen am auch geografisch rechten Rand Europas. Nicht auszuschließen, dass es dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gelingen könnte, eines nicht all zu fernen Tages in einigen dieser Staaten Zwietracht in ihrem Verhältnis zu Brüssel zu säen.

Die Bundesregierung ist – anders als es das Klischee wissen will – an dieser brandgefährlichen Entwicklung in Europa, an der Erosion des Vertrauens, nicht unschuldig. Die größere Bedeutung Deutschlands nach der Einheit hat insbesondere Angela Merkel gerne angenommen. Aber sie hat sie übertrieben. Frankreich sieht sie schon lange nicht mehr als ebenbürtigen Partner. Südliche Mitgliedstaaten wurden durch ihre Härte düpiert, die kleinen Mitglieder, die Helmut Kohl so bewusst gepflegt hat, missachtet. Der Brexit ist somit auch die Quittung für diesen faktischen Bruch der europäischen Solidarität, der sich in der Flüchtlingspolitik fortsetzte.

Kein Stein dürfe auf dem anderen bleiben, hat der österreichische Außenminister gestern gesagt. Das ist sicherlich übertrieben. Aber in gewisser Weise muss Europa seit gestern tatsächlich neu gebaut werden. Sachlich und emotional. Eine Herkulesaufgabe.

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