Minderjährige Flüchtlinge Ein Heer von Schutzlosen

Rom · Tausende Minderjährige sind in den vergangenen Jahren nach Europa eingereist. Viele bleiben in der Illegalität und geraten in die Hände krimineller Organisationen.

 Allein in der Fremde: Helfer begleiten einen Jungen im sizilianischen Messina von Bord.

Allein in der Fremde: Helfer begleiten einen Jungen im sizilianischen Messina von Bord.

Foto: AFP

Ahmad war 16 Jahre alt, als er entschied, nach Italien zu gehen. Jetzt, wo er da ist, will er am liebsten wieder zurück nach Ägypten. Aber er kann nicht, er hat kein Geld. „Ich habe meinen Freunden zu Hause gesagt, dass sie nicht kommen sollen“, erzählt Ahmad. Aber sie glauben ihm nicht. „Sie werden schon sehen“, sagt der junge Mann.

Ahmad ist einer von Zehntausenden minderjährigen Flüchtlingen in Europa. Inzwischen ist er in Rom und schlägt sich mit seinesgleichen um Arbeit. Dutzende Jungs in seiner Situation konkurrierten um einen Job auf dem römischen Großmarkt, in Pizzerien, in Autowaschanlagen. Für einen Hungerlohn von zwei, drei, mit viel Glück fünf Euro pro Stunde.

Vor wenigen Tagen schlug die europäische Polizeibehörde Europol Alarm. In den vergangenen zwei Jahren seien etwa 10 000 Kinder und Jugendliche in die EU eingereist, unbegleitet und minderjährig. Alleine 5000 von ihnen hielten sich in Italien auf, etwa 1000 in Schweden. „Es ist nicht abwegig zu sagen, wir suchen nach mehr als 10 000 Kindern“, sagte Europol-Chef Brian Donald dem britischen „Observer“ und äußerte die Sorge, viele Kinder und Jugendliche könnte in die Fänge krimineller Organisationen gelangt sein. „Wir wissen einfach nicht, wo sie sind, was sie tun und mit wem sie zusammen sind“, sagte Donald.

Die meisten Fachleute halten die Zahlen für untertrieben. Zuletzt meldete auch das deutsche Bundeskriminalamt, allein in der Bundesrepublik würden Anfang Januar 4749 alleinreisende minderjährige Flüchtlinge vermisst. Nach Angaben der Hilfsorganisation Save the Children sind im vergangenen Jahr etwa 270 000 Kinder und Jugendliche in die EU eingereist, viele von ihnen unbegleitet. Es handelt sich um ein ganzes Heer von Kindern und Jugendlichen, das schutzlos und unkontrolliert durch Europa irrt. Ahmad ist einer von ihnen. Oft werden die Jugendlichen von ihren Familien für eine bessere Zukunft losgeschickt. Die entpuppt sich nicht selten als Albtraum.

Valentina Murino trifft täglich mit diesen Heranwachsenden zusammen. Sie leitet am Stadtrand von Rom das „A28“, eine private Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Zwischen zehn Uhr abends und zehn Uhr morgens stellt „A28“ Betten, Duschen, Kleider, psychologische und rechtliche Betreuung sowie ein warmes Essen zur Verfügung. Einzige Bedingung: die Gäste müssen unter 18 Jahre alt sein. Für Dokumente oder Daten interessieren sich Murino und die anderen Helfer nicht. Sie wollen den Kindern und Jugendlichen einzig und alleine nächtlichen Schutz geben. „Manche halten unsere Arbeit für illegal, aber die Unterstützung Minderjähriger steht für uns über allem anderen“, sagt Murino.

Mehr als 2500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben seit 2011 auf den Service von „A28“ zugegriffen, jedes Jahr etwa 500. Der überwiegende Teil von ihnen stammt aus Afghanistan, Eritrea, Ägypten, Somalia oder Bangladesch. Die Kinder, im Schnitt etwa 15 Jahre alt, ziehen nach wenigen Tagen weiter in Richtung Schweden, Norwegen oder Deutschland.

Die Jugendlichen wollen nicht erfasst werden, weil sie fürchten, sonst wegen der geltenden Asylregeln in Italien hängen zu bleiben. Sie umgehen jede Art von Kontrolle oder Registrierung, um ihr Ziel zu erreichen. Sollten sie in eines der 15 staatlichen Auffanglager für minderjährige Flüchtlinge etwa auf Sizilien geraten, verlassen sie es kurz darauf wieder und verschwinden aus der Statistik. Auf diese Weise kommt die Zahl der Vermissten zustande. „Kinder aus Ägypten und Bangladesch bleiben meist in Italien“, sagt Murino. „Sie werden fast immer Opfer von Ausbeutung und Kriminalität.“ Ein Beispiel ist die Ausbeutung zu Arbeitszwecken. Immer wieder wird auch über Fälle von Zwangsprostitution berichtet. Bekannt ist etwa, dass vor allem Mädchen aus Nigeria in Italien häufig zur Prostitution gezwungen werden. Zuletzt hieß es auch, minderjährige Ägypter hätten sich immer wieder am Bahnhof in Rom prostituiert.

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