Fluchtursachen in Maghreb-Staaten Ein Heer von Hoffnungslosen sitzt auf gepackten Koffern

Rabat/Madrid · In Algerien und Marokko ist eine große, junge Bevölkerung gefangen zwischen hoher Arbeitslosigkeit und politischer Repression.

 "Platz für die Jugend", fordert dieser Demonstrant in Algier unter den Augen von Einsatzkräften der Regierung.

"Platz für die Jugend", fordert dieser Demonstrant in Algier unter den Augen von Einsatzkräften der Regierung.

Foto: picture alliance / dpa

Hunderttausende junge Menschen sitzen in den nordafrikanischen Maghrebstaaten Marokko und Algerien auf gepackten Koffern. Armut und hohe Arbeitslosigkeit sorgen dafür, dass immer mehr nur noch weg wollen. Die Verzweiflung treibt sie dazu, sich in wackelige Boote zu setzen, um übers Mittelmeer nach Südeuropa zu gelangen. Oder mit dem Flugzeug in die Türkei zu fliegen, um von dort Griechenland zu erreichen und sich dann dem Flüchtlingstreck nach Zentraleuropa anzuschließen.

Fehlende Freiheiten und geringe politische Fortschritte steigern die Frustration in diesen beiden Ländern, in denen der arabische Frühling – anders als in Tunesien – keine Chance bekam. Und wo islamistische Fundamentalisten unter den Hoffnungslosen leicht Nachwuchs finden, weil sie ihnen Geld und das Paradies versprechen. Viele junge Leute hätten nur die Wahl zwischen „Auswandern nach Europa oder als Kamikaze-Terroristen ins Jenseits zu gehen“, warnt die algerische Zeitung „Le Matin“.

Algerien wie Marokko tun wenig, um die Emigration ihrer jungen Generation zu stoppen. Aus politischem und wirtschaftlichem Kalkül: Migration dient als soziales Ventil, um Druck aus der unzufriedenen Gesellschaft abzulassen. Und die Geldüberweisungen jener, die es nach Europa geschafft und Arbeit gefunden haben, helfen den Familien in der Heimat zu überleben. Deswegen verspürt man in Algier wie in Rabat nur geringe Lust, bei Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber mit Europa zu kooperieren.

Wie groß das Heer der Hoffnungslosen ist, kann man in Algerien sehen, wo das Regime des greisen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika seit 1999 regiert: 70 Prozent der 40 Millionen Algerier sind jünger als 30 Jahre. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt, liegt offiziell bei 25 Prozent – aber nach inoffiziellen Angaben ist sie viel höher. Algeriens Menschenrechtsliga LADDH beklagt, dass mittlerweile 35 Prozent der Familien unter der Armutsgrenze lebten. Viele hausen in Slums am Rande der Hauptstadt Algier. „Immer mehr junge Algerier wollen deswegen nach Europa“, warnt die LADDH.

Proteste gegen Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Korruption und das Regime werden niedergeknüppelt. Das Land besitzt die größten Erdgasvorräte Afrikas und lebt vom Gas- und Erdölexport nach Europa. Doch der Reichtum versickert in den Taschen der Eliten. Zuletzt brachen wegen der sinkenden Rohstoffpreise die Staatseinnahmen ein, was die soziale Misere der Bevölkerung vergrößern dürfte.

Amnesty International beklagt, dass „ein Mantel des Schweigens“ über den Menschenrechtsverbrechen in Algerien liege. „Zehntausende Tötungen, Entführungen, Fälle von Verschwindenlassen und Folterungen“ würden nicht aufgeklärt. Die Behörden beschränkten Meinungsfreiheit, Versammlungsrecht und verfolgten Bürgerrechtler sowie kritische Journalisten.

Die EU feiert das algerische Regime derweil als Bollwerk der Stabilität. Das Land, drittwichtigster Gas-Lieferant der EU, sei ein „Schlüssel-Partner“. Brüssel sorgt sich, dass das Land nach einem Zusammenbruch des Regimes – ähnlich wie der Nachbar Libyen – im Chaos versinken und die Migration Richtung Europa weiter anschwellen könnte.

Im angrenzenden Königreich Marokko, in dem Mohammed VI. seit 16 Jahren regiert, tickt eine ähnliche soziale Bombe: eine sehr junge Gesellschaft mit einem Durchschnittsalter von 28 Jahren. Hohe Jugendarbeitslosigkeit, die in den Städten nach Angaben der Weltbank bei 40 Prozent liegt. Tiefe Armut in der Provinz, wo immer noch Dörfer auf Wasser-, Strom- und Straßenanschluss warten.

Als die Regierung im Januar ankündigte, dass staatliche Jobs für junge Lehrer reduziert würden, gingen Tausende in mehreren Städten auf die Straße. Die Polizei löste die Proteste mit Schlagstöcken auf, es gab Verletzte. „Die Repression schüchtert uns nicht ein“, skandierten die Menschen. König Mohammed will seinem Reich, in dem 33 Millionen Menschen leben, das Image eines liberalen Landes geben. Er versprach Reformen und vereinbarte mit der EU eine Partnerschaft, die Millionen-Hilfen in das Land lenken. Als jedoch im Jahr 2011, dem Jahr des arabischen Frühlings, die Menschen einen „echten politischen Wandel“ forderten, erstickte die Polizei des Monarchen die Kundgebungen mit Gewalt.

Das offizielle Bild eines demokratischen Marokkos sei „trügerischer Schein“, bilanzierte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty im jüngsten Menschenrechtsbericht. Dort heißt es: „Schläge, schmerzhafte Positionen, Sauerstoffentzug, simuliertes Ertränken, psychische und sexuelle Gewalt: Dies sind nur einige der vielen Foltermethoden, die marokkanische Sicherheitskräfte einsetzen, um Geständnisse zu erzwingen oder um Aktivisten und Andersdenkende zum Schweigen zu bringen.“

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