EU EU-Ausstieg der Briten stürzt Europa in historische Krise

London · Die britischen Wähler lassen den Plan A eines geeinten Europas platzen. In Berlin wird am Wochenende nun nach Plan B gesucht. Brüssel will schnell Fakten schaffen, London hat eigene Brexit-Pläne und könnte auf Zeit spielen.

 Aus und vorbei: Der britische Premier David Cameron hat sich verspekuliert - die Briten nutzten die Chance zum EU-Austritt.

Aus und vorbei: Der britische Premier David Cameron hat sich verspekuliert - die Briten nutzten die Chance zum EU-Austritt.

Foto: Michael Kappeler

Das Brexit-Votum hat die Europäische Union (EU) in eine historische Krise gestürzt. Nach einem erbitterten Wahlkampf entschieden sich 51,9 Prozent der Briten in einem Referendum für den Austritt.

Die Angst vor weiterer Zuwanderung und die Sorge um die nationale Souveränität hatten dem Anti-EU-Lager starken Zulauf beschert. Premierminister David Cameron, der für einen Verbleib geworben hatte, kündigte seinen Rücktritt bis spätestens Oktober an. Er versicherte zugleich, dass Regierung und Parlament den Volkswillen respektieren und mit der EU den Austritt aushandeln werden.

Die internationalen Finanzmärkte reagierten mit Kursstürzen. Das Pfund Sterling fiel auf den tiefsten Stand seit mehr als 30 Jahren. Experten befürchten eine Wirtschaftskrise, Jobverluste und einen Währungsverfall. Die britische Zentralbank kündigte notfalls massive Stützungsmaßnahmen an.

Während die britische Führung bei den Verhandlungen über den Ausstieg offensichtlich auf Zeit spielen will, drängen die Spitzenvertreter der EU zur Eile. "Jede Verzögerung würde die Unsicherheit unnötig verlängern", erklärten EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk, Parlamentspräsident Martin Schulz und der niederländische Regierungschef Mark Rutte. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn forderte eine schnelle und zivilisierte "Scheidung".

Bereits an diesem Samstag kommen die Außenminister der sechs EU-"Gründerstaaten" in Berlin zusammen, um über die Folgen des Referendums zu beraten. Die führenden Nationen Deutschland und Frankreich wollen dabei gemeinsame Vorschläge vorlegen.

Nach Angaben von Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault soll die EU effizienter gemacht werden. Bei den Vorschlägen gehe es aber nicht um "eine institutionelle Flucht nach vorne", sagte Ayrault der Nachrichtenagentur AFP. Es solle auch nicht noch mehr Souveränität nach Brüssel übertragen werden. "Wenn man sich auf dieses Terrain begibt, riskiert man, alle zu blockieren", warnte der Franzose.

Am Rande des EU-Gipfels am Dienstag und Mittwoch in Brüssel soll es bereits ein "informelles Treffen" der 27 verbleibenden EU-Staaten geben - erstmals ohne Großbritannien. Für diesen Montag lädt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu Gesprächen nach Berlin ein.

Merkel sagte, die EU sei stark genug, um die richtigen Antworten zu geben. Die Bürger müssten konkret spüren können, "wie sehr die Europäische Union dazu beiträgt, ihr persönliches Leben zu verbessern". In den Verhandlungen mit Großbritannien über den EU-Ausstieg sollten die Beziehungen weiter "eng und partnerschaftlich" gestaltet werden.

Die EU erlebt angesichts von Finanzkrisen, Flüchtlingsandrang sowie Arbeitslosigkeit und schlechter Wirtschaftslage in vielen Ländern ohnehin schon die schwerste Belastungsprobe ihrer Geschichte. Rechtsparteien in Europa jubilierten über das Votum der Briten. Erste Forderungen nach Referenden in anderen EU-Staaten wurden laut. Der britische Rechtspopulist Nigel Farage, einer der populärsten Brexit-Befürworter, frohlockte: "Die EU versagt, die EU stirbt."

Auch dem Vereinigten Königreich selbst könnte ein Zerfall drohen. So strebt die schottische Regierungspartei SNP nun einen neuen Volksentscheid zur Loslösung Edinburghs von London an, um allein in der EU verbleiben zu können. "Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ist nun höchstwahrscheinlich", sagte Ministerpräsidentin und SNP-Parteichefin Nicola Sturgeon.

Bei dem Referendum hatten Schotten und Nordiren mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert. Die Wahlbeteiligung lag bei 72 Prozent. Insgesamt stimmten 17,4 Millionen Wähler für den Brexit, 16,1 Millionen dagegen.

Mit dem Austritt der Briten verliert die EU nach 43 Jahren London als ihre Finanzhauptstadt, ihre zweitstärkste Volkswirtschaft und das Land mit der drittgrößten Bevölkerung. Zudem ist das Land - zusammen mit Frankreich - einer von zwei EU-Staaten mit Atomwaffen und Ständigem UN-Sicherheitsratssitz.

Die britische Führung reagierte demonstrativ gelassen auf das Drängen der EU-Führung, schnell Entscheidungen zu treffen. "Es gibt keine Notwendigkeit für einen genauen Zeitplan", sagte Cameron. Die Verhandlungen mit Brüssel solle sein Amtsnachfolger führen, der im Oktober gekürt werden könnte. Im Gespräch sind unter anderem Boris Johnson (52), Ex-Bürgermeister von London, Justizminister Michael Gove (48) sowie Schatzkanzler George Osbourne (45).

Cameron hatte das Referendum bereits 2013 vorgeschlagen - vor allem mit dem innenpolitischen Kalkül, EU-Kritiker in den eigenen Reihen ruhigzustellen. Diese Rechnung ging nicht auf. Zahlreiche Warnungen von Politikern aus der ganzen Welt, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von Wirtschaftsverbänden verhallten ungehört.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier warf der britischen Regierung vor, die EU-Mitgliedschaft leichtfertig verspielt zu haben. Der SPD-Politiker erinnerte am Freitag in einem ZDF-Interview daran, dass das Referendum seinen Ursprung in Auseinandersetzungen innerhalb der konservativen Regierungspartei des britischen Premierministers David Cameron hatte. "Die Regierung (hat) mit dem europäischen Schicksal gespielt und hat verloren."

US-Präsident Barack Obama telefonierte am Freitag mit Cameron und Merkel. Die USA würden sich mit den europäischen Verbündeten weiter abstimmen, um die Stabilität des globalen Finanzsystems zu sichern, sagte Obama in einer Rede an der Universität Stanford (Kalifornien).

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