Interview "Die wahre Autorität ist in den Herzen"

Ist der Islam eine Religion der Gewalt? Wolfgang Pichler befragte den islamischen Theologen Professor Mouhanad Khorchide aus Münster.

 "Den Koran lebendig halten": Mouhanad Khorchide. FOTO: WWU MÜNSTER

"Den Koran lebendig halten": Mouhanad Khorchide. FOTO: WWU MÜNSTER

Foto: WWU Münster

Der Publizist Frank Meyer hat den Islam als "reaktionäre Zeitmaschine" bezeichnet, die uns "vor die Aufklärung" zurückwerfen wolle. Ist der Islam rückwärtsgewandt?

Professor Mouhanad Khorchide: Es gibt eine rückständige Lesart des Islam, das ist nicht zu leugnen. Wir muslimischen Theologen bekämpfen sie, und sie bekämpft uns. Aber man darf nicht sagen: Das ist der ganze Islam. Viele Islamgegner übernehmen das derart unkritisch, dass man nicht mehr weiß, ob da jetzt ein Islamgegner spricht oder ein islamischer Fundamentalist. Es gibt viele andere Lesarten des Islam, die mit pluraler Gesellschaft und Rechtsstaat völlig konform gehen.

Kritiker sagen, das sei unmöglich. Schließlich gebe es im Islam nur eine einzige Instanz: den Koran.

Khorchide: Man kann den Koran nicht lebendig halten, wenn man sich nicht ständig fragt, was er uns nicht vom Wortlaut, sondern von seinem Sinn her sagen will. Er lässt sehr viel Raum für Interpretationen. Sonst hätten wir nicht eine solche Bandbreite an Schulen und Strömungen in der islamischen Welt. Der Schlüssel ist, dass Gott im Koran zu Mohammed sagt: "Wir haben dich lediglich als Barmherzigkeit für alle Welten entsandt." Jede Interpretation, die nicht der Barmherzigkeit folgt, widerspricht dem Sinn der Verkündung.

Islamgegner sagen: "Die Wirklichkeit sieht anders aus. Mag ja sein, dass es eine friedliche Spielart des Islam gibt - aber wo ist sie?"

Khorchide: Die Mehrheit der Muslime lebt ihr Leben still und friedlich. Weil das der Norm entspricht, fällt es uns nicht auf. Was auffällt, ist die Abweichung von der Norm - die Gewalt und die Attentate. Einer neuen Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge befürworten 90 Prozent der Muslime in Deutschland die Demokratie. Wir müssen das einfach stärker wahrnehmen. Positive Bilder vom Islam muss man nicht erst erfinden. Sie sind da.

Wie kann man es aus dem Islam heraus schaffen, aus den zehn Prozent Demokratie-Gegnern fünf zu machen oder eines? Können die friedliebenden Muslime selbst gegen die Radikalen vorgehen?

Khorchide: Natürlich, unbedingt. Wir müssen die theologischen Positionen, die Gewalt bejahen, entschärfen und die menschenfreundlichen Positionen stärken. Die Frage ist aber auch, warum sich der Einzelne für die Gewalt entscheidet. Die Salafisten zum Beispiel rekrutieren oft Schulabbrecher, die sich in der Gesellschaft nicht anerkannt fühlen. Dass sie diese Anerkennung nicht anders finden zu können glauben als durch Gewalt, ist ein Versagen von uns allen als Gesellschaft.

Ließe sich eine starke reform-islamische Stimme schaffen?

Khorchide: Wir brauchen einen aufgeklärten Diskurs von unten, keine Stimme von oben. Auch im Christentum funktioniert das so nicht immer. Egal, was der Papst sagt - es gibt trotzdem noch die Evangelikalen in Amerika, die Abtreibungsärzte erschießen. Wir brauchen niemanden, der jungen Menschen sagt: Diese Internetseite ist gut, jene ist falsch. Der Mensch muss das selbst unterscheiden. Die wahre Autorität ist in den Köpfen und Herzen der Menschen.

Darf eine Zeitung Mohammed-Karikaturen drucken?

Khorchide: Es gibt die überlieferte Geschichte, dass ein Nachbar dem Propheten täglich Müll vor die Tür kippte. Er nahm das klaglos hin - und als eines Tages kein Müll dalag, besuchte er den Nachbarn, weil er sich Sorgen um ihn machte. Mohammed stand über diesen Dingen. Ich plädiere aber für Besonnenheit auf beiden Seiten. Provokationen sind unklug. Man spielt den Verrückten in die Hand.

Wohin geht der Weg zwischen "dem" Islam und "dem" Westen?

Khorchide: Langfristig, glaube ich, wird sich die Situation verbessern. Wir sitzen in einem Boot; die Anschläge und der IS sind eine Gefahr für Muslime und Nichtmuslime. Der humanistische Islam wird wachgerüttelt werden. Die Gefahr wird uns als Gesamtgesellschaft langfristig stärken.

Zur Person

Professor Mouhanad Khorchide wurde 1971 in Beirut geboren. Er studierte Islamische Theologie an der Al-Ozaii-Imam-Fakultät für Islamische Studien im Libanon und Soziologie in Wien. Seit 2010 ist er Professor für

Islamische Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und leitet dort seit 2011 das "Zentrum für Islamische Theologie". Er veröffentlichte Bücher wie "Scharia - Der missverstandene Gott: Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik" und "Islam ist Barmherzigkeit: Grundzüge einer modernen Religion" (beide erschienen bei Herder, Freiburg im Breisgau).

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