Kommentar Die bittere Wahrheit

Meinung · Merkels Plan zur Verringerung der Flüchtlingszahlen fußt auf der Erwartung, dass die Türkei mehr tut, um die Abwanderung von Syrern nach Europa zu drosseln. Bisher deutet jedoch nichts darauf hin, dass dieser Plan funktioniert.

 Ein syrisches Flüchtlingsmädchen ist auf ihrer Flucht in einem Camp gestrandet.

Ein syrisches Flüchtlingsmädchen ist auf ihrer Flucht in einem Camp gestrandet.

Foto: dpa

Ein Prunkwagen für den Mainzer Rosenmontagszug zeigt die Dame Europa, die auf die Knie gesunken ist, um dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die Füße zu küssen. Während der Wagen beim Umzug durch die Straßen rollt, wird Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ankara mit dem türkischen Staatschef und mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu über die türkische Hilfe bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise sprechen. Fällt die Kanzlerin vor Erdogan auf die Knie? Lassen die Türken die Europäer zappeln? Fordert Ankara mehr Geld?

Mit keinem anderen Regierungschef außerhalb der EU pflegt die Kanzlerin derzeit eine so intensive direkte Zusammenarbeit. Die Geschäftigkeit wirkt ein wenig wie Verzweiflung, denn die Kanzlerin braucht wegen der Stimmung im Land und in der eigenen Partei schnelle Erfolge. Merkels Plan zur Verringerung der Flüchtlingszahlen fußt auf der Erwartung, dass die Türkei mehr tut, um die Abwanderung von Syrern nach Europa zu drosseln. Bisher deutet jedoch nichts darauf hin, dass dieser Plan funktioniert.

Außerdem knirscht es zwischen Europäern und Türken. Ankara erwartet von der EU eine direkte Finanzhilfe in Höhe von mindestens drei Milliarden Euro, doch Brüssel will das Geld nur zweckgebunden freigeben. Die Türkei setzt zudem auf völlige Reisefreiheit für ihre Bürger in Europa schon ab Mitte des Jahres, doch das wird die EU wahrscheinlich nicht zulassen. Auch die Doppelhaltung der EU sorgt für Unmut: Einerseits fordert Europa von Ankara mehr Schritte gegen den Flüchtlingsstrom, andererseits ruft sie die Türkei derzeit auf, die Grenze bei Aleppo zu öffnen, um noch mehr Flüchtlinge ins Land zu lassen – aus humanitären Gründen. Nur nach Europa sollen die Menschen bitte nicht kommen.

Die bittere Wahrheit ist, dass weder Merkel noch Erdogan oder Davutoglu angesichts des Flüchtlingsstroms viel ausrichten können. Gerade die Entwicklung in Aleppo zeigt das. Kämpfe um die nordsyrische Metropole treiben Zehntausende neue Flüchtlinge in Richtung Türkei.

Für den Fall, dass die Stadt von den Regierungstruppen eingenommen wird, rechnet Ankara mit mehr als einer Million zusätzlichen Vertriebener; Diplomaten sprechen von „apokalyptischen Ausmaßen“. Noch mehr Syrer werden sich dann auf den Weg in die EU machen.

Es gibt keine guten Optionen für den Westen. Er hat in Syrien zu lange zugeschaut, weil die Meinung vorherrschte, die Krise in Damaskus berühre ihn nicht. Jetzt ist die Syrien-Krise in Form der Flüchtlinge in Europa angekommen, und Politikern wie Merkel läuft die Zeit davon. Inzwischen hat sich Russland als entscheidender Akteur etabliert und strebt eine militärische Lösung des Konflikts zugunsten seines Partners Baschar al-Assad an. Vielleicht muss Europa demnächst vor Wladimir Putin auf die Knie fallen.

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