Kommentar zu Erdogan-Anhängern in NRW Der Denkzettel

Meinung | Bonn · Die Autokorsos an Rhein und Ruhr stimmen nachdenklich, weil sich ausgerechnet hier, in NRW, überdurchschnittlich viele Deutschtürken von Recep Tayyip Erdogan haben mobilisieren lassen.

Sie bejubeln das Ergebnis, als ginge es nicht um Repressalien und Bürgerrechte, sondern um den Sieg der türkischen Nationalmannschaft auf dem Fußballplatz.

Hupende, fahnenschwenkende Deutschtürken platzen in die Feiertagsstille des Ostersonntags, kurven per Autokorso durchs Ruhrgebiet, durch Köln, um zu bejubeln, dass in der Türkei die Demokratie entkernt werden darf. Viele sagen ob dieser Bilder: Es geht nicht zusammen, dass Menschen in Deutschland in Freiheit leben, aber Freunden und Verwandten in der Türkei per Mehrheitsentscheid die Diktatur aufzwingen.

Das Wahlverhalten ist in der Tat erschütternd, auch wenn man nicht vergessen darf: Fast die Hälfte aller wahlberechtigten Türken hat sich mutig gegen diese Stimmung gestemmt und für Nein votiert. Deutschtürken waren trotz aller Anwürfe auch nicht entscheidend für den knappen Ausgang des Referendums – obschon ihr Votum deutlich ausgefallen ist.

Die Autokorsos an Rhein und Ruhr stimmen nachdenklich, weil sich ausgerechnet hier, in NRW, überdurchschnittlich viele Deutschtürken von Recep Tayyip Erdogan haben mobilisieren lassen. Sie bejubeln das Ergebnis, als ginge es nicht um Repressalien und Bürgerrechte, sondern um den Sieg der türkischen Nationalmannschaft auf dem Fußballplatz.

Die Mischung aus Nationalstolz, Wir-Gefühl und Gewinnergestik war deplatziert, aber auch entlarvend: Hier wechselte eine Gruppe, die sich immer noch als Minderheit in Deutschland fühlt, auf die Siegerseite. Der türkischstämmige Psychologe Kazim Erdogan erklärt die Euphorie der Deutschtürken für den Autokraten mit gefühlter Zurücksetzung und tatsächlicher Diskriminierung. Selbst in der dritten Generation kommen viele Deutschtürken nicht an – ihre beruflichen und sozialen Ziele erfüllen sich nicht, weil etwa ihr türkischer Name Hürde bei Job- und Wohnungssuche bleibt. Da wird einer wie Recep Tayyip Erdogan, der es von ganz unten zum Erfolg geschafft hat, zur Vaterfigur, zu der sich aufblicken lässt – und ein Referendum zum Denkzettel für die feindselige, deutsche Un-Heimat.

Dass im türkischen Konsulat in Essen deutschlandweit mit fast 76 Prozent die meisten Deutschtürken für Erdogans Ziele gestimmt haben, passt in diese Erklärung. Hier, wie auch in Köln und Düsseldorf, wohnen mehr Familien mit Wurzeln in ländlichen Regionen der Türkei, mit schlechterer Ausbildung und reduzierten Chancen, als in Hamburg oder Berlin, wo das Abstimmungsverhalten nicht so deutlich pro Erdogan ausfiel. Auch die exzellent gebildeten, türkischstämmigen Migranten in den USA widersetzten sich dem Demokratieabbau klarer als Deutschtürken.

Auf dem Denkzettel für uns steht neben Bildung: Integration muss in Form von Wertschätzung und echter Teilhabe daherkommen. Auf dem Denkzettel steht nicht: Wiederhole reflexhaft den Ruf nach Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft. Genau das verschlimmert die Entfremdung und die Sehnsucht nach einem starken Mann am Bosporus.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort