Kommentar zu Türkei und Europa Das Mindeste

Meinung | Bonn · Seit Freitag gibt es in der Türkei niemanden mehr, der Erdogan in die Schranken weisen könnte. Das müssen andere tun – wenn sie es denn können. Allen voran die EU.

Wenn die Welt so wäre, wie man sie sich wünschte, dann hätte auch die EU jetzt kein Problem. Dann müsste sie keine schmutzigen Deals mit Staaten machen, die keine Demokratien sind, und nicht mit Menschen verhandeln, die keine lupenreinen Demokraten sind, um ein schlechtes Wort Gerhard Schröders aufzugreifen. Da die Welt aber nicht so ist, da es um Macht, nicht um Moral geht, steckt die EU jetzt erst recht in der Zwickmühle. Und mit ihr Nato und USA.

Historiker werden, irgendwann vielleicht, herausfinden, was das für ein Putsch war, den die Türkei am Freitagabend erlebt hat und für den es viele Gründe gab. Dass er dilettantisch ausgeführt wurde, war schon Stunden später klar. So dilettantisch, dass man sich schon fragen muss, ob es überhaupt einer war, ob die Welt nicht Zeuge einer gigantischen Inszenierung geworden ist. Die Umstände der Reaktion des türkischen Machtapparats sind jedenfalls sehr erstaunlich: der unbehelligte Rückflug Recep Tayyip Erdogans durch einen angeblich von putschender Luftwaffe beherrschten Luftraum, die präzise geplante Rachereaktion anhand einer Tausende von Menschen umfassenden Liste von Militärs und Richtern. Da stimmt mit Sicherheit etwas nicht.

Im Ergebnis bleibt sich das allerdings leider gleich: Der türkische Präsident geht gestärkt aus diesem Putsch, dieser Putsch-Inszenierung hervor. Er nimmt den Vorfall dankend an, spricht gar von einem Geschenk Gottes und radikalisiert seinen antidemokratischen Kurs. Seit Freitag gibt es in der Türkei niemanden mehr, der Erdogan in die Schranken weisen könnte. Das müssen andere tun – wenn sie es denn können.

Zu allererst die Europäische Union. Doch diese EU hat sich spätestens mit dem Flüchtlingsabkommen die mahnenden Hände selbst gefesselt. Wie sollen die Staats- und Regierungschefs Europas, wie sollen die Brüsseler Institutionen die Türkei wirkungsvoll zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie anhalten, wenn der türkische Präsident sie mit seiner Flüchtlingspolitik erpressen kann? Politisch extrem kurzsichtig, nebenbei bemerkt, wenn just in diesem Moment die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft laut Danke dafür sagt, dass die deutschen Grenzen für Flüchtlinge so gut wie dicht sind. Politisch das Mindeste, wenn Berlin und Brüssel jetzt drohen, dass es mit der Beitrittsperspektive der Türkei zur EU endgültig aus wäre, wenn sie die Todesstrafe wieder einführte.

Aber Erdogan ist doch viel zu clever, als dass er nicht wüsste, dass diese Perspektive ohnehin nur noch auf dem Papier steht. Also weiß er, dass die EU nicht wirklich drohen kann und dass die Nato das Mitglied Türkei aus geopolitischen Gründen für unverzichtbar halten muss. Das heißt im Klartext: Erdogan kann weiterhin machen, was er will. Und die EU steht nach der Auseinandersetzung mit Wladimir Putin, nach Brexit und IS-Terror noch schwächer da als zuvor.

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