David McAllister zum Referendum in Großbritannien „Das Land ist so polarisiert wie kaum zuvor“

Bonn · Das Königreich ohne Schottland und eine EU-Außengrenze durch Irland: Der EU-Abgeordnete David McAllister sieht nach möglichem Austritt neue Probleme.

David McAllisters Telefon ist dauerbesetzt: Der Europa-Abgeordnete mit deutsch-britischen Wurzeln erinnert gerade Freunde auf der Insel daran, beim Referendum am Donnerstag bloß die richtige Entscheidung zu treffen. Was das sein soll, hat er GA-Redakteurin Jasmin Fischer erzählt.

Was glauben Sie, wie die Briten sich am Donnerstag entscheiden?

David McAllister: Was meinen Sie denn?

Die Brexit-Anhänger hatten bis letzte Woche noch einen deutlichen Vorsprung. Ich glaube, es läuft auf eine Trennung hinaus.

McAllister: Ich bin etwas optimistischer als Sie, und zwar aus drei Gründen. Erstens sind rund zehn Prozent der Stimmberechtigten noch unentschlossen. Bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen können sie den Ausschlag geben. Umfragen umfassen oft nicht die Nordiren – sie sind aber mehrheitlich für die EU. Und drittens haben sich kurz vor Fristablauf viele junge Menschen registrieren lassen, was mich hoffnungsvoll stimmt. Die junge Generation ist eindeutig pro-europäisch.

Was treibt die Brexit-Befürworter an?

McAllister: Sie beklagen den Verlust nationaler Souveränität an aufgeblähte, demokratisch nicht legitimierte Institutionen in Brüssel. Sie glauben, dass der EU-Austritt wirtschaftliche Vorteile bringe, weil sich Großbritannien im globalen Wettbewerb angeblich besser aufstellen könnten. Und sie behaupten, dass die EU-Mitgliedschaft Massenzuwanderung und Probleme verursache...

Wenn man sich die überlasteten Schulen, Arztpraxen und Krankenhäuser nicht nur in London anschaut, kann man diese Sorge durchaus teilen. Haben Brexit-Befürworter nicht allen Grund für ihre Bedenken?

McAllister: Die Sorgen vieler Briten vor zu starker Zuwanderung sind ernst zu nehmen. Natürlich bedeutet das eine Herausforderung für die Bildungs- und Sozialsysteme. Aber das hat nur bedingt mit der EU zu tun. 50 Prozent der Einwanderer kommen von außerhalb der EU nach Großbritannien. Und für zugewanderte EU-Ausländer, so der Beschluss des EU-Gipfels vom Februar, können Sozialleistungen beschränkt werden. Zwei Fakten sollten nicht vergessen werden: die verstärkte Zuwanderung aus osteuropäischen EU Ländern war ein wirtschaftlicher Gewinn für das Vereinigte Königreich. Und: Zwei Millionen britische Staatsbürger genießen ebenso die Freizügigkeit und leben in den anderen 27 EU Staaten.

Sie sind halb Brite, halb Deutscher, arbeiten jetzt als Europa-Abgeordneter in Brüssel. Sie kennen also alle Seiten dieser Entscheidung. Mit wem sympathisieren Sie?

McAllister: Natürlich mit den EU-Befürwortern. Ich bin überzeugt, dass es für das Vereinigtes Königreich besser ist, ein vollwertiges Mitglied zu bleiben – und das wäre auch für die gesamte EU besser.

Der Reformstau in Brüssel, die verschiedenen Geschwindigkeiten innerhalb der EU, der Wunsch, nationale Belange selbst entscheiden zu dürfen – diese starken Argumente von Premier David Cameron und Außenminister William Hague für eine losere, keine engere Union, sind doch nicht von der Hand zu weisen.

McAllister: London war 40 Jahre treibende Kraft für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik in der EU – so ist der Binnenmarkt schließlich eine quasi britische Erfindung! Auch heute forciert das Vereinigte Königreich die Harmonisierung von Dienstleistungen und der digitalen Wirtschaft im Binnenmarkt. Uns allen sind gleichwohl die Probleme in Brüssel bewusst. Die EU-Institutionen verlieren in allen 28 Mitgliedsstaaten an Vertrauen. Zum Teil mache ich mir ernsthafte Sorgen um den Zustand der EU. Die Frage aber ist doch: Geben wir Europa auf oder gestalten wir unsere Union besser, effizienter, demokratischer? Dazu brauchen wir eine engagierte und pragmatische britische Stimme. Wie heißt es doch: „The UK should be leading, not leaving.“

Was wären die Konsequenzen, wenn die Briten für den Brexit stimmen?

McAllister: Das Kopf-an-Kopf-Rennen von Befürwortern und Gegnern ist so eng, dass man den Ausgang kaum vorhersagen kann. Ein Brexit wäre ein Sprung ins Ungewisse. Dafür gibt es kein historisches Beispiel und für die Zeit danach auch keine Blaupause. Sollte die Entscheidung aber so ausfallen, müsste die britische Regierung dem Europäischen Rat dies offiziell mitteilen. Dann blieben maximal zwei Jahre Zeit, die EU Mitgliedschaft abzuwickeln. Ebenso gilt es, den Rahmen der zukünftigen Beziehungen zum EU Binnenmarkt abzustecken. Das kann mehrere Jahre dauern. Wirtschaftlich drohen kurzfristig schwere Finanzmarktturbulenzen verbunden mit einer Rezession und längerfristig verunsicherte Investoren. Ein Brexit kostet Arbeitsplätze und Einkommen. Davor warnen führende Ökonomen eindringlich.

Nun sind Schottland, Wales und Nordirland leidenschaftliche EU-Befürworter. Was bedeutet diese Gemengelage für die Stimmung im Königreich?

McAllister: 85 Prozent der Wahlberechtigten leben in England – hier wird das Referendum entschieden. Das Land ist schon jetzt so polarisiert wie kaum zu vor. Ein Brexit-Votum würde zu einer grundsätzlichen innerstaatlichen Debatte im Vereinigten Königreich führen. So hat die schottische Ministerpräsidentin für diesen Fall eine erneute Debatte um eine schottische Unabhängigkeit angekündigt. Und in Nordirland fragt man sich besorgt, welche Konsequenzen eine quer über die irische Insel verlaufende EU-Außengrenze haben könnte.

Bewegt Sie das nahende Referendum?

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