Direkte Demokratie Zehn Millionen Stimmen könnten für den Dexit reichen

Berlin · Im Innenausschuss des Bundestages diskutieren Experten und Politiker über direkte Demokratie. Ausgeloste Gremien gelten dabei als vielversprechende Idee.

 Luftballens von Befürwortern von mehr direkter Demokratie vor dem Rathaus in Stralsund.

Luftballens von Befürwortern von mehr direkter Demokratie vor dem Rathaus in Stralsund.

Foto: picture alliance / Stefan Sauer/

Das Schaudern ist noch da. Jenes innerliche Schütteln vornehmlich bei konservativen Politikern, wenn sie an Volksabstimmungen denken. Bei einer Expertenanhörung im Innenausschuss des Bundestages zur Frage von mehr direkter Demokratie kann ein erfahrener Jurist weitere Anlässe zum Kopfschütteln liefern.

Zehn Millionen Stimmen, so rechnet Professor Otto Depenheuer von der Uni Köln vor, würden für den Dexit reichen, also dafür, dass Deutschland per Verfassungsänderung aus der EU herausgebracht wird, jedenfalls wenn es nach dem von den Linken vorgelegten Gesetzesantrag ginge. Zehn von 82 Millionen Leidtragenden. Der Brexit zeige doch, so Depenheuer, was passiere, wenn ein Volk über hochkomplexe Angelegenheiten mit Ja oder Nein zu entscheiden habe.

Auch die emeritierte Frankfurter Professorin Regina Ogorek gehört zu den warnenden Stimmen, und zwar auf der Grundlage jahrzehntelanger Erfahrungen mit dem viel gepriesenen Schweizer System der direkten Demokratie. Nur die Hälfte der Abstimmenden wisse in der Regel, worum es gehe. In einem Fall hätten 96 Prozent der Beteiligten an einem Volksentscheid angenommen, über Einkünfte von Managern zu entscheiden. Dabei sei es um andere Angelegenheiten des Aktienrechts gegangen. Vor allem schildern die Experten, dass viel Zeit vergeht. Auf bis zu neun Jahren wird die Spanne geschätzt, die zwischen dem Start eines Volksbegehrens und der Entscheidung vorgesehen werden müsse.

Auch die Absenkung des mit dem Linken-Antrag verknüpften Wahlalters auf 16 Jahre und die Öffnung des Wahlrechts für länger hier lebende Ausländer wird überwiegend abgelehnt. Mal aus systematischen Gründen (dann müssten die 16-Jährigen auch unter das Erwachsenenstrafrecht fallen), mal aus verfassungsrechtlichen (selbst eine Einfügung des Ausländerwahlrechtes in die Verfassung sei verfassungswidrig). Andere meinen, es ruhig mal auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Im Grunde ist das Schicksal eines Linken-Antrags leicht vorauszuahnen. Es gibt dafür keine Mehrheit, wegen der Koalitionsarithmetik und der Konkurrenz unter den Oppositionsfraktionen nicht einmal eine nennenswerte Zahl von Unterstützern. Doch bei diesem Thema sieht es anders aus.

Denn es gibt nicht nur Millionen von Bundesbürgern, die mit mehr direkter Demokratie sympathisieren. Zudem hatte die CSU im Wahlkampf erklärt, mehr davon auch auf Bundesebene anzustreben. Es gibt sogar eine Passage im Koalitionsvertrag, die aufhorchen lässt. „Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann“, heißt es im Koalitionsvertrag. Genau das macht die Anhörung so interessant. Geht da was?

Ja, vor allem bei der Einbindung von Bürgern, wie sie Professor Hans Lietzmann von der Universität Wuppertal am Beispiel von Baden-Württemberg skizziert, wenn es etwa um größere Projekte geht und repräsentativ ausgeloste Männer und Frauen die Grundzüge von Experten dargelegt bekommen und dann darüber beraten. „Am ersten Tag hacken sie aufeinander ein, am zweiten sind sie auf Augenhöhe und am dritten einer Meinung“, berichtet der Politikwissenschaftler.

Auch die SPD ist beeindruckt. „Solche geloste Gremien würden an Wahlen und im Mehrheitsdiskurs bisher unterrepräsentierte Gruppen beteiligen“, sagt SPD-Innenpolitiker Helge Lindh unserer Redaktion. Auf diese Weise ließe sich auch verhindern, dass Volksinstrumente von Populisten und Lobbyisten gekapert werden. Zudem wären komplexe Sachverhalte nicht auf Ja- oder Nein-Antworten zu reduzieren. „Demokratie ist die Weisheit der Vielen“, unterstreicht Lindh. Er plädiert deshalb dafür, diesen Grundsatz mit ergänzenden Verfahren zur Beteiligung von Bürgern zu stärken.

Friedrich Straetmanns (Linke) ist ebenfalls angetan von den Befragungsrunden. Er zeigt sich einerseits flexibel, was den eigenen Antrag anbelangt und meint, über das Mindestquorum für den Start solcher Volksbegehren könne man diskutieren. Ob hunderttausend Unterschriften reichen sollen oder eine Million, um dieses Instrument zu bedienen, darüber solle der Ausschuss in Ruhe reden. Für ihn ist mit Blick auf das Vorhaben von direkter Demokratie wichtig, dass mit der Anhörung „ein Pfahl eingerammt“ worden sei.

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