"Wir sind jetzt alle eine große Familie" Wie sich die Fußball-WM auf Russland auswirkt

Moskau · Die Fußball-WM hat Russlands Fußballwelt verändert. Auch die Provinzstadt Ziwilsk erlebt patriotische Tage. Aber Aufbruchstimmung herrscht nur bei den Kindern. Ein Erfahrungsbericht unseres Korrespondenten.

 Impressionen aus Ziwilsk: Die Nachwuchskicker rund um den 14-jährigen Kiril (r.) auf dem Kunstrasenplatz am Rande des Städtchens.

Impressionen aus Ziwilsk: Die Nachwuchskicker rund um den 14-jährigen Kiril (r.) auf dem Kunstrasenplatz am Rande des Städtchens.

Foto: Scholl

Ilja, 11, verkündet: „Ich bin für Neymar“. Obwohl Neymar immer schauspielert? „Ilja schauspielert doch selbst genauso“ – die anderen Jungs lachen. Auf dem Fußballplatz des 14.000-Seelen-Städtchens Ziwilsk, 700 Auto-Kilometer östlich von Moskau, haben alle Jungs ihre Idole. Und jetzt sogar zwei. Ilja vergöttert den brasilianischen Superstar Neymar und den russischen Halbstürmer Denis Tscheryschew, der 14-jährige Kiril den Argentinier Messi und Russlands Mittelfeldregisseur Alexander Golowin.

Russland lebt in einer neuen Fußballwirklichkeit. Vor dem sensationellen Erreichen des Viertelfinales bei der Heim-WM galten die eigenen Nationalspieler als Haufen überbezahlter Versager, jetzt eifern die russischen Fußballkinder auch ihnen nach. „Wir wollen sein wie sie“, erklärt Kiril. „Und dafür müssen wir uns jetzt noch viel mehr anstrengen!“

Die Fußball-WM, davon sind auch die meisten Erwachsenen in Ziwilsk überzeugt, hat ihr Land verändert. „Das wichtigste Ergebnis des Turniers ist Geschlossenheit“, sagt Alexander Grigorjew, 32. Er stürmt für den Fußballclub BoMiK Ziwilsk, gegründet noch in der Sowjetunion und nach dem ersten Trainer „Boris Michailowitsch und Mannschaft“ benannt, russisch kurz BoMiK. „Die Nationalspieler und die Zuschauer“, sagt Grigorjew, „wir sind jetzt alle eine große Familie.“

Viele fühlen sich als kleiner Teil des neuen großen Ganzen

Es sind patriotische Tage in ganz Russland, die Medien feiern das Geschehen vor allem als Rückkehr zu vergangenem Heroismus. „Früher habe ich solche Gesichter nur in Filmen über den Krieg gesehen“, schreibt ein Reporter der Zeitung Sowetski Sport über die beseelten Minen der Nationalkicker. „Und so haben wohl auch Leute ausgesehen, die unter Stalin besonders verantwortungsvolle Parteiaufgaben erfüllten.“

Viele ausländische Fans hat Ziwilsk nicht erlebt. Immerhin, in einem Wolgastrandcafé im 35 Kilometer entfernten Tscheboksary steht ein Deutschlandfähnchen im Fenster, ein Fan soll es auf dem Weg nach Kasan dagelassen haben. Aber die russischen TV-Sender wiederholen täglich die gleichen Übersetzungs-Tonspuren zu Bildern lächelnder Fremdländer: „Man hat uns belogen. Russland ist ein wunderbares Land und die Russen sind gastfreundliche, offene Menschen.“ Die Stimmung bei dieser WM war wirklich herzlich, die Organisation gelungen, allerdings hat die Masse der Ausländer außer Fußgänger- und Fan-Zonen kaum etwas gesehen vom Land. Die Botschaft der Staatsmedien ans eigene Publikum aber propagiert generell: „Jetzt weiß es endlich die ganze Welt, wir sind wunderbar. Und ändern müssen wir nichts!“ Aufbruchstimmung klingt anders.

Auch Kiril und die anderen sonnenverbrannten Jungs auf dem Sportplatz fühlen sich als kleiner Teil des neuen, schönen, großen Ganzen, das Russland heißt. Dutzende Kinder verbringen ihre Tage auf dem dunkelgrünen Teppich des Kunstrasenplatzes am Stadtrand, dort wo die Teerstraße endet. Obwohl Ferien sind und keine Trainer da. Sie kicken, sie plaudern, träumen und kicken wieder, Stunde um Stunde.

BoMiK-Stürmer Grigorjew, studierter Jurist und Sprinter mit einem Bestzeit von 11,2 Sekunden auf 100 Metern, ist überzeugt, die gelungene WM werde gerade dem Jugendfußball einen gewaltigen Impuls geben. Allerdings sei Ziwilsk, zwei Türenfabriken, eine Elektronikfabrik, ein Frauenkloster und drei Haftanstalten, immer eine Fußballstadt gewesen. Bei den Minifußballturnieren, auf den „Schachteln“ genannten Eishockey-Kleinfeldern, habe früher auch Nationalmittelstürmer Artjom Dsjuba mitgespielt, dessen Mutter aus Ziwilsk stammt. „Aber Dsjuba war schon damals sehr groß, in den Schachteln ist seine Mannschaft nie Erster geworden.“ BoMiK selbst spielt in der Oberliga der Republik Tschuwaschien, immerhin Russlands vierte Liga.

Vielen sind bunte Schuhe wichtiger als Leistung

Vor wenigen Jahren hat Ziwilsk ein neues Sportzentrum bekommen, mit Turnhalle, Schwimmbad und einem Kunstrasenplatz, für alle ganztägig geöffnet. Im Rahmen eines staatlichen Programms sind in fast allen Kreiszentren der Republik Tschuwaschien solche Anlagen gebaut worden. „In der Oberliga der Republik spielen zehn Vereine“, sagt Grigorjew, „zwei noch auf Rasen, alle anderen auf Kunstrasen.“

Und sein Spielertrainer Alexander Sajun reißt die Arme auseinander, um den Unterschied zwischen den materiellen Voraussetzungen für russische Fußballer heute und in der Sowjetzeit zu demonstrieren. Aber Sajun beschwert sich auch, vielen jungen Spieler sei es wichtiger, einen roten und einen gelben Fußballschuh zu tragen, als enge Ballführung zu üben. Außerdem fehle es an qualifizierten Nachwuchstrainern. Sajun, 43, weiß, wovon er spricht, er hat in der usbekischen Nationalmannschaft gespielt, für russische Proficlubs wie Torpedo Moskau, war später Jugendtrainer im provinziellen Pensa. „Statt Talent zählt heute Kommerz“, schimpft er. Oft kämen nicht die fähigeren Jungs in die Nachwuchskader der großen Proficlubs, sondern die, deren Eltern mehr Schmiergeld zahlten.

Vor allem in der ärmlichen Provinz gilt Fußball als chronisches Verlustgeschäft, arbeiten die Club-Manager nicht, um mit dem Verkauf gut ausgebildeter Eigenzöglinge selbst Gewinn zu machen, sondern um möglichst zahlungskräftigen Sponsoren möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen.

Die Leute in Ziwilsk aber sind bescheiden, auch was den Fußball angeht. Spielertrainer Sajun mag klagen, dass ein Teil seiner Männer keine Lust hat, dreimal die Woche zu trainieren. Und dass es deshalb mit dem Aufstieg wieder nicht klappt. Aber sein Sturmtank Grigorjew erklärt, er fände die deutsche Definition von Fußball sehr gelungen: „Die wichtigste Nebensache der Welt.“ Als Russland in der Verlängerung des Viertelfinales gegen Kroatien in Rückstand geraten ist, als auch in der Sushi-Pizza-Bar „Samurai“ die Spannung eskaliert, beginnen zwei Männer am Tisch, eifrig eine Angelpartie auf der Wolga zu erörtern.

Das Verhalten der russischen Justiz hat das Turnier nicht verändert

Der Berufserzieher Anton Krawtschenko ist BoMiK-Fan. Früher lärmten er und anderen Freizeitmusikanten bei Heimspielen mit Gitarren und einer Trommel. Die meisten von ihnen sind verzogen, Krawtschenko nicht. Dreieinhalb Jahre arbeitete er als Gefängnispädagoge, jetzt ist der Koordinator der Oppositionsgruppe „Offenes Russland“ in Tschuwaschien. „Eine Organisation, die gegen Russland arbeitet“, erklärt ein BoMiK-Spieler. „Aber das ist eben sein Job, als Typ ist Anton voll in Ordnung.“

Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat „Offenes Russland“ als „unerwünschte Organisation“ eingestuft, gegen Anton sind sieben Ordnungsverfahren wegen Beteiligung an dieser Organisation im Gange. Zum Beispiel, weil er und andere Schlaglöcher in der Provinzhauptstadt Tscheboksary mit Holzplatten abdeckten, auf die sie Fotos von Putin-Vertrauten geklebt hatten.

Viermal wurde Kraw-tschenko zu Geldstrafen verurteilt, eine davon ist inzwischen rechtskräftig. „Wenn das nächste Urteil rechtskräftig wird, drohen mir schon ein Strafverfahren und bis zu sechs Jahren Gefängnis“, beschwert er sich. „Ich tue, was ich für richtig halte, und der Staat steckt mich zum Dank ins Gefängnis.“ Die Verhaltensmuster der russischen Justiz hat diese WM nicht verändert, auch nicht in Ziwilsk.

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