Der Traum vom letzten Wort Schwieriger Umgang mit dem Vermächtnis wichtiger Politiker

BERLIN · Wie erinnert man sich an die prägenden Jahre von Politikern? Im Sommer 1993 gibt die Witwe Willy Brandts, seine dritte Frau Brigitte Seebacher, ein viel beachtetes Interview. Es erhebt einen zentralen Anspruch. Der Verstorbene, sagt Seebacher, habe "ein klares Testament hinterlassen".

 Auch Maike Kohl-Richter ringt um den Nachlass ihres Mannes Helmut.

Auch Maike Kohl-Richter ringt um den Nachlass ihres Mannes Helmut.

Foto: dpa

Er vermache ,meiner Frau Brigitte' sämtliche Schriften, Akten und Papiere, mithin den gesamten Nachlass. Zudem gebe es eine zusätzliche Handnotiz, in der, so Seebacher, "das Verfügungsrecht an mich übergeht". Und die Witwe unterlässt nicht den unmissverständlichen Hinweis: "An niemanden sonst."

Im Frühjahr 2014 gibt Maike Kohl-Richter, zweite Frau Helmut Kohls, ein viel beachtetes Interview. Es erhebt einen zentralen Anspruch. "Die alleinige Entscheidungsbefugnis" über den künftigen Nachlass ihres Mannes solle bei ihr liegen.

Man muss diese Parallelen nicht zu weit treiben. Aber man kann. Es hatte schon zu Lebzeiten Brandts Murren in der SPD gegeben. Seebacher versperre auch alten Weggefährten den Zugang zu ihrem Mann. Sie isoliere ihn. Als sie in dem Interview danach gefragt wurde, warum Brandts geschiedene Ehefrau Rut nicht zur Beerdigung eingeladen worden war, antwortete sie in aller Direktheit: "Willy Brandt war entschieden der Meinung, e i n e Frau zu haben." Nach seinem Tod, so die Vorwürfe, habe sie die Deutungshoheit über den SPD-Ehrenvorsitzenden beansprucht, habe aus dem demokratischen Sozialisten einen Deutschnationalen machen wollen. Werkzeug dafür sei der exklusive Zugang zum Nachlass gewesen.

Diese Angst, dass sich da jemand zum alleinigen Deuter eines Politikers aufschwinge, dessen Vermächtnis als Staatsmann doch irgendwie der ganzen Nation gehört, geht wieder mächtig um. Tatsächlich minimiert auch Kohls Frau den Zugang auf einen Kreis handverlesener Erwählter. Und wieder steht der Nachlass im Mittelpunkt.

400 Aktenordner persönlicher Unterlagen und Aufzeichnungen aus der Kanzlerzeit haben die Kohls aus der Konrad-Adenauer-Stiftung ins Oggersheimer Haus bringen lassen. Zum Ärger der Partei. Dort lagern inzwischen auch wieder die 135 Tonbänder aus insgesamt 105 Treffen Kohls mit dem Journalisten Heribert Schwan. Die Bänder waren für den Ghostwriter Kohls die Grundlage für drei Bände der Kanzler-Memoiren.

Während des Verfassens des vierten Bandes kam es zum Bruch. Seither tobt ein Rechtsstreit über dieses einzigartige Zeitdokument - 630 Stunden Lebenserinnerung des "Vaters der Einheit". Am kommenden Freitag entscheidet das Gericht - aller Voraussicht zugunsten des Altkanzlers. Auftakt zu weiteren Auseinandersetzungen um Deutungshoheit, Geschichtsbild, um Erinnerung und Vermächtnis.

In seiner großen Abschiedsrede auf dem SPD-Bundesparteitag 1987 sagte Willy Brandt einen schönen Satz: "Nichts kommt von selbst und nur wenig ist von Dauer." Darin mischen sich anscheinend Ansporn und Resignation. Darum geht es doch den Politikern: um Dauer. Sie gestalten, sie verändern, sie bauen Zukunft nach ihren Plänen, so gut es eben geht im tagespolitischen Klein-Klein von Rückschlägen und Kompromissen.

Und warum? Damit etwas bleibt. Solange sie regieren, haben sie das letzte Wort. Aber danach? Reden andere - über sie. Wägen, werten, urteilen. Schwer zu ertragen ist das. Da entsteht dieser Traum leicht: noch ein letztes Mal das Wort nehmen - das letzte Wort, diesmal wirklich. So entstehen Memoiren. Die sollen gelten für die Ewigkeit.

Der Historiker Alexander von Plato hat die Memoiren der an der Wiedervereinigung beteiligten Politiker untersucht. Er fasste seine Erkenntnisse einmal so zusammen: "Memoirenschreiber haben eine tragische Seite, weil sie Zeugen einer untergehenden Epoche sind und gegen die Zeit anschreiben." Sie hätten in den Memoiren noch "eine letzte Chance, sich im kulturellen Gedächtnis zu verankern." Vielleicht erklärt das auch die Härte, mit denen Nachlassfragen ausgefochten werden können. Es geht um die Verankerung im kulturellen Gedächtnis. Mit anderen Worten: um ein Stück Ewigkeit. Das lohnt den Streit.

Nicht jeder greift allein zur Feder. George W. Bush hatte 2010 seine Memoiren verfasst und sich dann auf ein neues Projekt konzentriert: den Bau der Präsidentenbibliothek auf dem Gelände der Southern Methodist University in Dallas. Vergangenes Jahr wurde sie eröffnet. Das also soll bleiben: Nicht der Irak-Krieg, nicht die Staatsschulden - Bush als Mann des Geistes. Es funktioniert. Heute haben immerhin schon wieder 47 Prozent der Amerikaner eine positive Meinung über Bush junior. Das war schon schlimmer.

Natürlich schreiben die meisten. Um das Bild ihrer selbst zu korrigieren, angebliche Vorurteile auszuräumen: Auffallend, wie sich Adenauer bemühte, sich in seinen Erinnerungen als Teamspieler zu präsentierten, eben nicht als jemand, der beratungsresistent einsame Beschlüsse fasste.

"Wie es wirklich war" - das ist das Leitmotiv aller retrospektiver Politiker-Literatur. Jüngstes Beispiel: Christian Wulff, gescheiterter Bundespräsident, der sich von allen missverstanden sieht und nun seine Wahrheit präsentiert, damit sie währe. Einer präsentierte sogar einst seine Rückschau aus einer Perspektive, die jede Relativierung schlicht unmöglich machen sollte: "Erinnerungen von jenseits des Grabes" nannte der Graf Chateaubriand seine Lebensgeschichte. Mehr geht nicht.

"Und wenig ist von Dauer" - diese gelassen-melancholische Weisheit ist nicht jedermann beschieden. Wohl auch Helmut Kohl nicht. In dem Interview von Maike Kohl-Richter überliefert sie auch eine Reaktion ihres Mannes auf die öffentliche Debatte um die Spendenaffäre, in deren Mittelpunkt er stand. "Es war blanke Rache", soll er gesagt haben. "Es kommt nicht darauf an, was einer gemacht hat, sondern wie es dargestellt wird." Und das ist auch das Credo aller Memoirenschreiber in Reinform.

Kohls Vorgänger hat auch Erinnerungen verfasst. Bei Helmut Schmidt mischt sich jedoch eine gewisse Eitelkeit mit einer gewissen norddeutschen Zurückhaltung auf nicht unangenehme Weise. Im vergangenen Bundestagswahlkampf hielt der 95-Jährige in Brandenburg einen Vortrag.

Am Ende sagte er: "Sie haben einem uralten Mann zugehört. Sie müssen ihn nicht unbedingt ernst nehmen." Das ist das Gegenteil der Haltung, mit denen gemeinhin Memoiren geschrieben und Kämpfe um Nachruhm und Ewigkeit ausgefochten werden. In dem Interview mit Brigitte Seebacher-Brandt sagte die Historikerin auch: "Wenn ich nicht sicher wäre, dass der Witwenrummel sich erschöpft, würde ich den Beruf wechseln." In ihrem Fall hat er sich tatsächlich erschöpft. Das lässt hoffen.

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