Offene Fragen nach Berlin-Attentat War Amri ein Lockvogel des Verfassungsschutzes?

Berlin · Nach dem Behördenbericht über Anis Amri bleibt der Verdacht, dass der Attentäter ein Lockvogel für den Verfassungsschutz war.

Eine 19-seitige Chronologie zum „Behördenhandeln um die Person des Attentäters vom Breitscheidplatz Anis Amri“ hat die Bundesregierung am Montag veröffentlicht. Vieles von dem, was darin steht, ist in groben Zügen bekannt gewesen, nun gibt es mehr Details – zum Beispiel jenes, dass für die Sicherheitsbehörden, als sie am 2. November 2016 im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern über Amri sprachen, „kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar“ war. Gestützt wird auch die These, dass es an der mangelnden Kooperation der tunesischen Behörden lag, die der Abschiebung im Wege standen. So habe etwa das Bundeskriminalamt, wie es im Eintrag vom 30. August heißt, „mehrfach eine Antwort bei den TUN-Behörden angemahnt“.

Zur brisanten Frage aber, warum der Mann, der am 17. Februar offiziell als Gefährder eingestuft wurde und am 19. Dezember in Berlin zwölf Menschen tötete, nicht frühzeitig in Deutschland in Haft kam beziehungsweise jene in Ravensburg Ende Juli wieder verlassen konnte, liefert der Bericht nur widersprüchliche Antworten. Da ist nur davon die Rede, dass ein Festhalten „nicht möglich“ war, weil der Ausländerbehörde Kleve in NRW die tunesischen Papiere fehlten. Zugleich jedoch kam der Hinweis an die Bundespolizei Konstanz, Amri wolle in die Schweiz reisen, wenige Tage zuvor aus NRW. Schon am 5. Februar 2016 war wiederum von einer „Fahndungsausschreibung“ der Bundespolizei zu lesen – keine zwei Wochen später jedoch wurde Amri bei einer Personenkontrolle in Berlin nicht festgenommen, es folgte lediglich eine „präventivpolizeiliche Observation“.

Die Aufklärung ist also alles andere als abgeschlossen. Am Montag tagte das Parlamentarische Kontrollgremium zum Fall Amri, an diesem Dienstag befasst sich damit eine Koalitionsrunde und am Mittwoch dürfte sich im Innenausschuss des Bundestages Minister Thomas de Maizière kritischen Fragen gegenübersehen – zum Beispiel jener, ob die Behörden möglicherweise absichtlich nicht zugegriffen haben.

Einer, der Hinweise dafür sieht, ist Wolfgang Kubicki. Er ist nicht nur FDP-Chef in Schleswig-Holstein, sondern auch Strafverteidiger und sitzt seit Jahren in den Kontrollgremien des Landesparlaments zur Überwachung des Verfassungsschutzes. Er kennt das legitime Bestreben der Ermittler, an Hintermänner zu gelangen. Für ihn ergibt sich ein klares Bild: Man nutzte Amri als Köder, um große Fische zu angeln. „Weshalb“, fragt Kubicki, „hat die Stadt Klewe Herrn Amri eine Duldungsbescheinigung ausgestellt unter einer falschen Identität, obwohl man ganz genau wusste, dass man von Amri angelogen wurde?“ So etwas mache „eine kleine Ausländerbehörde nicht aus eigener Machtvollkommenheit, da braucht sie politische Rückendeckung direkt vom Innenministerium“. Er vermute, „dass der Verfassungsschutz signalisiert hat: Lasst den mal laufen, drückt mal ein Auge zu, wir brauchen den, um ihn weiter beobachten zu können.“

Es ist gängige Praxis, dass Gefährder sich möglichst lange in Sicherheit wiegen sollen, damit sie sich unbefangen bewegen. Kubicki kann sich vorstellen, „dass das eigentliche Ziel der Observation der Salafist Abu Walaa war“. Der ist ein Großkaliber der Gefährderszene, vielleicht die Nummer eins des IS in Deutschland, der daher bei einem Großeinsatz am 8. November in Hildesheim festgenommen wurde. Amri soll bei ihm häufig zu Gast gewesen sein. „Die hatten meiner Ansicht nach eine andere Agenda, und dann ist die Sache aus dem Ruder gelaufen“, so Kubicki: „Weshalb das in die Hose ging, muss aufgeklärt werden, und dann müssen die politisch Verantwortlichen Konsequenzen ziehen.“

Die Grünen verfolgen dieselbe Spur. Sie wollen unter anderem wissen, was im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum genau vorlag, insbesondere die Rolle des Verfassungsschutzes soll durchleuchtet werden. „Besonders auffällig ist bisher das laute Schweigen des Verfassungsschutzes zum Fall Amri“, sagte MdB Irene Mihalic, selbst Polizeibeamtin. Es müsse trotz des vorliegenden Dementis aus dem Innenministerium „geklärt werden, ob Sicherheitsbehörden an Amri herangetreten sind, um ihn selbst vielleicht sogar als V-Mann oder als Informant zu gewinnen“.

Kubicki erkennt noch andere Indizien dafür, dass von höherer Stelle Ermittlungen oder Strafverfahren unterbunden wurden. Beispiel Duisburg. Ihn empört die Erklärung der dortigen Staatsanwaltschaft, man habe das Ermittlungsverfahren gegen Amri wegen Sozialhilfebetrugs und seiner falschen Identitäten eingestellt, weil man angeblich keine Meldeadresse hatte. Dies wäre strafrechtlich ein zwingender Grund, einen Haftbefehl zu beantragen und wegen Fluchtgefahr nach ihm zu fahnden, statt ihn laufen zu lassen. Weshalb bei Amri anders verfahren wurde und wer dies womöglich angewiesen habe, sei deshalb dringend zu klären. Gleiches gelte für die Frage, weshalb Ermittler in Berlin wussten, dass Amri mit Drogen dealte, aber kein Verfahren gegen ihn eröffnet wurde.

Offene Fragen wirft auch Amris Gastspiel in baden-württembergischer Haft auf. Kubicki meint, er hätte auch ohne die Aussicht auf Ausreisepapiere aus Tunesien länger festgehalten werden müssen. Der Jurist verweist auf einen Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 25. März 2010 zu einem ähnlich gelagerten Fall. Wer demnach nicht daran mitwirkt, an Ersatzdokumente zu kommen, „muss Verzögerungen hinnehmen, die dadurch entstehen, dass die Behörden seines Heimatstaates um die Feststellung seiner Identität und die Erteilung eines Passersatzpapiers ersucht werden müssen“. Dies rechtfertige eine längere Abschiebehaft. Die Behauptung, das wäre rechtlich nicht möglich gewesen, weil Tunesien die Papiere so spät ausgestellt habe, ist laut Kubicki „vollkommener Quatsch“.

Auch der CDU-Innenpolitiker Armin Schuster hat den Eindruck, „dass der Fall Amri die Justiz noch in große Probleme bringen kann“. Er fragt, „warum der Generalbundesanwalt im Februar 2016 keine Zuständigkeit für den Fall gesehen hat, obwohl es Informationen gab, dass Amri nach Waffen sucht und mit Anschlagsplanungen prahlt“. Und er will wissen, „warum die Generalstaatsanwaltschaft Berlin kein Verfahren wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat eingeleitet hat – oder wegen zahlreicher anderer Delikte von Drogenhandel, über Sozialbetrug bis zum Versuch, Mittäter für einen Anschlag zu finden“. Schuster: „Warum die NRW-Behörden einfach zuschauen, wie Amri quer durchs Land reist, ist mir noch völlig unklar.“ (Thomas Maron, Norbert Wallet und Christopher Ziedler)

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