Kommentar Vor der Europawahl - Realitäten

Man kann Brüssel als das machtversessene Zentrum Europas begreifen, das noch jedes Detail regeln will. Dann regt man sich über die schon sprichwörtliche Bananen- oder Gurkenkrümmung, über verbotene Glühlampen oder auch über Kaffeemaschinen auf, die sich aus Energiespargründen nach fünf Minuten abstellen müssen.

Man kann Europa aber auch als das Gebilde begreifen, das nicht nur mehr als sechs Jahrzehnte Frieden garantiert, sondern auch einen Binnenmarkt geschaffen hat, von dem Deutschlands Wirtschaft prächtig profitiert. Dass das Schengen-Abkommen dazu geführt hat, dass der Stau an den Grenzen kein Synonym mehr für Urlaubsbeginn ist. Und so weiter und so fort.

Was man nicht kann: Man kann Europa nicht mehr links liegen lassen. Genau das tun die politischen Parteien hierzulande aber immer noch. Nicht mehr so wie früher, wo der gängigste Slogan vor Europawahlen hieß: "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa." Mittlerweile hat das Europaparlament mehr Rechte. Nicht genügend, aber viel mehr, als die meisten Bürger wissen. Und deshalb ist das Profil der Europaparlamentarier und der aktuellen Kandidaten auch besser geworden. Aber durch die Bank gut ist es immer noch nicht.

Der Bürger beklagt die Bürgerferne der europäischen Politik, und die Politik belässt ihn in diesem Irrglauben. Wenn mehr als die Hälfte der politischen Entscheidungen nicht mehr in den nationalen Parlamenten, sondern im Straßburger oder Brüsseler Rund fallen, betrifft das die Bürger eben zentral. Und nicht nur bei den Negativbeispielen. Freizügigkeit! Was wäre der deutsche Pflegebetrieb ohne polnische Hilfen. Kommunikation! Was wären das für Handy-Rechnungen ohne die Brüsseler Roaming-Initiativen! Und und und.

Man kann es drehen und wenden, wie man will. An Europa kommt niemand mehr vorbei. Auch der nicht, der glaubt, es ignorieren oder kleinreden zu können.

Die am 25. Mai zu wählenden Europaabgeordneten - 96 für die ganze Republik - sind dabei in der nicht beneidenswerten Lage, ob der Größe ihrer Wählerschaft gar nicht an den einzelnen Bürger heranzukommen. Das gibt den Parteien aber nicht das Recht, immer noch Kandidaten zu benennen, die kaum jemand kennt. Und das gibt den Regierungschefs in den 28 nationalen Hauptstädten auch nicht das Recht, sich über geltende Verträge hinwegzusetzen. Helmut Schmidt, wahrhaft ein Europäer, hat begonnen mit der Unsitte, "die da in Brüssel" schlechtzureden. Alle anderen haben damit weitergemacht. Und obendrein europäisches Recht missachtet. Deutschland in Serie.

Wer Europa kritisiert, muss es endlich ernst nehmen. Sonst trägt er zu dem Ansehensverlust bei, den er beklagt.

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