Analyse der Mitte-Studie Verfassungsschutz warnt vor Extremismus

Berlin · Die Mitte-Studie verwies bereits auf wachsende Zustimmung zu rechtsextremistischen Gedanken. Nun warnt der Verfassungsschutz vor einer zunehmenden Akzeptanz der extremistischen Ränder aus der Mitte heraus. Eine Analyse.

Was sich in dieser Gesellschaft unter der Oberfläche mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Demokratie verändert, lässt sich mit Hilfe einer Längsschnitt-Studie aus Thüringen an Zahlen ablesen. Zu Beginn des Jahrtausends attestierten Forscher 25 Prozent der repräsentativ Befragten, mit rechtsextremistischen Vorstellungen zu sympathisieren. Aktuell kommen sie auf 20 Prozent. Damals bezeichneten sich vier Prozent selbst als „rechts“, jetzt sind es 20. Die persönlichen Einstellungen ändern sich kaum. Aber die Bereitschaft, früher Verpöntes offen zu bekennen. „Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich“, lautet der Befund von Thomas Haldenwang, dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Und deshalb veranstaltete er an diesem Montag ein großes Symposium, um die Bedrohungslage mit vielen Experten zu analysieren.

Mitte der Gesellschaft toleriert immer mehr Extremismus

Auch Facebook-Vertreter Semjon Rens hat Zahlen mitgebracht: Auf 30.000 Mitarbeiter habe der Internet-Konzern die Zahl seiner Sicherheitsbeauftragten verdreifacht. So viele versuchen beim Moderieren der Inhalte Werbung für Terrorismus, Rassismus, Antisemitismus und Extremismus rauszuhalten. Dass sich selbst diese Plattform nicht mehr in vornehmer Zurückhaltung übt und sich hinter der Meinungsfreiheit versteckt, spricht Bände über das Wachsen der Gefahren. Als Fazit des Symposiums kann auch ein einziger Satz stehen: Die Mitte der Gesellschaft toleriert immer mehr Extremismus.

Die umstrittene Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat der Mitte selbst eine wachsende Bereitschaft zur Übernahme rechtsextremer Einstellungen unterstellt. Im Zwei-Jahres-Rhythmus sei die Zustimmung zu abwertenden Einstellungen gegenüber Asylsuchenden von 44 über 50 auf 54 Prozent gestiegen. Allerdings stießen sich viele auch an den Fragestellungen, die ein Nein zu staatlicher Großzügigkeit gegenüber einzelnen Gruppen schon als einen von mehreren Belegen für Rechtsextremismus werteten.

"Neue Dynamik" bei Rechtsextremismus

Doch auch jenseits wissenschaftlicher Thesen sieht Verfassungsschutzchef Haldenwang eine „neue Dynamik“ beim Rechtsextremismus. Er verweist darauf, dass der Bürgerprotest, der früher darauf achtete, nicht von Extremisten vereinnahmt zu werden, in Chemnitz sogar dem Zeigen des Hitler-Grußes applaudiert habe. Vor allem warnt Haldenwang davor, den Blick zu verengen. Auch beim Linksextremismus sei eine Entgrenzung zu beobachten, komme es zum Schulterschluss aus der Mitte der Gesellschaft mit denjenigen, die mit enthemmter Gewalt selbst den Tod von Polizisten in Kauf nähmen.

Zwei aktuelle Beobachtungen belegen die Befunde. Da gibt es am 1. Mai in Berlin viele Gelegenheiten, gegen steigende Mieten zu protestieren. Auch für junge Familien mit Kinderwagen. Doch Dutzende wählen die „Revolutionäre-1.-Mai-Demonstration“ mit dem „schwarzen Block“ gewaltbereiter Linksextremisten, um auf die Straße zu gehen. Stunden zuvor haben Rechtsextremisten im sächsischen Plauen Bilder inszeniert, die um die Welt gehen: In ockerfarbenen Hemden marschieren sie mit Fahnen und Trommeln auf, so wie SA und Hitlerjugend in der NS-Zeit.

Verfassungsschutz nennt vier Schritte

Vier generelle Schritte hat der Verfassungsschutz ausgemacht, die von den Extremisten an beiden Seiten unternommen würden. Erster Schritt: An Bruchlinien in der Gesellschaft ansetzen und in diese eindringen (die Rechten machen es bei der Flüchtlingskrise, die Linken bei Umweltschutz und steigenden Mieten). Zweiter Schritt: Urängste aufgreifen und dem Bürger ein Gefühl der Benachteiligung vermitteln. Dritter Schritt: Den Staat delegitimieren, als ohnmächtig und inkompetent erscheinen lassen, so dass die Bürger die Sache selbst in die Hand nehmen müssten. Viertens: Systematisch Falschnachrichten verbreiten. Nach den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden läuft die Radikalisierung nicht mehr allein durch die sozialen Medien, die gezielt nur Nachrichten präsentieren, die das eigene Vorurteil bestätigen.

Stimmungsmache über internetbasierte Computerspiele

Die gegenseitige Bestätigung ist auch nicht mehr auf „Echokammern“ in Internetforen beschränkt, zu denen die Behörden nur schwer Zugriff haben. Verbreitet sei Stimmungsmache über internetbasierte Computerspiele, in deren Foren man sich nicht mehr nur über die Spiele, sondern über höher- und minderwertige Rassen austausche. Sowohl der Attentäter von München als auch der von Christchurch seien auf solchen Spielerplattformen bekannte Größen gewesen, erläuterte Haldenwang: „Da ist über Jahre eine Subkultur herangewachsen.“

Die Algorithmen im Internet führen nach den Forschungen des Kommunikationswissenschaftlers Wolfgang Schweiger dazu, dass Extremisten, die früher kaum Chancen hatten, einen Gleichgesinnten zu treffen, nun auf viele mit denselben Überzeugungen stoßen und sich selbst nun für die wahrgenommene Mehrheit halten. „Das ist ziemlich gruselig“, lautet sein Fazit über das subjektive Mehrheitsempfinden.

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