Bericht aus Moskau Unverständnis nach dem Rücktritt von Regierungschef Jazenjuk

MOSKAU · Kiew steht wieder einmal politisch unter Schock. "Keiner versteht, was vor sich geht", sagt der Geschäftsmann Alexander Massalski. "Jazenjuk ist doch der einzige vernünftige Premierminister, den die Ukraine je gehabt hat." Jazenjuk habe seine Politik gemacht, ohne sich von den Oligarchen reinreden lassen. "Die Leute mögen ihn."

Am Donnerstag war Arseni Jazenjuk als Regierungschef zurückgetreten. Nach einer chaotischen Parlamentssitzung, bei der die Mehrheit der Regierungskoalition erst die Fraktion der Kommunistischen Partei auflöste, dann zum wiederholten Mal die Ratifizierung des Assoziierungsvertrags mit der EU verschob und es ablehnte, ein Paket von Antikrisengesetzen anzunehmen.

Und danach erklärten die Fraktionsvorsitzenden der nationalistischen Partei "Freiheit" und der demokratischen Klitschko-Partei Udar, sie kündigten die Koalition mit Jazenjuks Vaterlandspartei: Sie wollten Präsident Petro Poroschenko die Möglichkeit geben, in einem Monat das Parlament aufzulösen und Parlamentswahlen auszurufen.

Jazenjuk reagierte prompt mit Rücktritt. Er lehne es ab, eine Koalition mit der ehemals regierenden Partei der Regionen und den Kommunisten zu formieren, erklärte er. Hinterher machte er seinem Ärger über die abtrünnigen Verbündeten auf Facebook Luft: "Es geht nicht, dass die Gesetze nicht beschlossen wurden, um Soldaten, Polizisten und Ärzte zu bezahlen, um Waffen zu kaufen und Benzin für die Schützenpanzer, um unsere Gasreserven für den Winter aufzufüllen ..."

Gestern fielen bei den Kämpfen gegen die prorussischen Separatisten im Donbass nach Angaben des Verteidigungsministeriums 14 ukrainische Soldaten, gleichzeitig teilte das Wirtschaftsministerium mit, das Bruttoinlandsprodukt sei im ersten Halbjahr um drei Prozent geschrumpft. Trotzdem lehnte es die Mehrheit der Parlamentarier auch gestern ab, die Antikrisengesetze abzustimmen.

"Das alles wirkt absurd und gemein", sagt der Kiewer Analytiker Sergei Wissozki unserer Zeitung. Es habe eine informelle Vereinbarung zwischen Präsident Poroschenko, Parlamentspräsident Alexander Turtschinow und Jazenjuk gegeben, solange Krieg herrsche, bleibe die Regierung im Amt. Jetzt aber sei auch die mit Poroschenko verbündete Udar-Partei aus der Regierungskoalition ausgeschert.

"Jazenjuks Antikrisengesetze sahen nicht nur sozial unpopuläre Maßnahmen vor, die viele Parlamentarier ihren Wählern offenbar nicht zumuten wollen", sagt Wissozki. "Sie beinhalteten auch massive Steuererhöhungen für Großunternehmen, Agrokonzerne, die Gas- und Ölbranche. Ganz offenbar gefiel das der mit Oligarchen gespickten Umgebung des Präsidenten ganz und gar nicht."

Zwar erklärte der frühere Süßwarenmagnat Poroschenko, er hoffe, dass Jazenjuk und sein Kabinett weiterarbeiteten. Und Oleg Tjagnybok, der Chef der nationalpopulistischen Freiheitspartei, versicherte, seine Fraktion werde bei der - laut Gesetz notwendigen - Abstimmung über den Rücktritt des Premiers mit Nein stimmen. "Jazenjuk bleibt Premier, de jure und de facto."

Sergei Soboljew, Fraktionschef von Jazenjuks Partei Vaterland, dagegen sprach von einem Schlag in den Rücken aller ukrainischen Patrioten. "Da wird Chaos im staatlichen System und ein politischer Krieg aller gegen alle provoziert."

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