Die Türkei wählt am Sonntag ihren Präsidenten Tag des Triumphs, Tag der Verzweiflung

ISTANBUL · Nach mehr als zehn Jahren auf dem Posten des Regierungschefs greift der 60-jährige Erdogan an diesem Sonntag nach dem höchsten Staatsamt. Der erfolgreichste türkische Politiker seit einem halben Jahrhundert spaltet aktuell die Türkei.

 Eine weibliche Unterstützerin von Erdogan feuert den Politiker bei einer Wahlkampfrede in Istanbul an. Seine Anhänger loben ihn, weil er der Türkei einen sagenhaften Wirtschaftsaufschwung beschert und das putschsüchtige Militär gezähmt hat.

Eine weibliche Unterstützerin von Erdogan feuert den Politiker bei einer Wahlkampfrede in Istanbul an. Seine Anhänger loben ihn, weil er der Türkei einen sagenhaften Wirtschaftsaufschwung beschert und das putschsüchtige Militär gezähmt hat.

Foto: dpa

Ganze Welten trennen die Menschen, die im Gassengewirr der Innenstadt von Istanbul nah beieinander leben. In der einen Welt steht Kesim Altintas, 61 Jahre, ein stämmiger Mann mit langem Schnurrbart, an einer Straßenecke und schwatzt mit einem Bekannten.

Dass er bei der Präsidentenwahl an diesem Sonntag den Favoriten Recep Tayyip Erdogan wählen wird, steht fest. Und dass Erdogan haushoch gewinnen wird, ist für ihn ebenso klar. Warum? "Was der alles gemacht hat!" ruft Altintas aus. "Sogar einen Tunnel unter dem Meer gegraben hat er." Er empfindet es gewissermaßen als Bürgerpflicht, Erdogan zu wählen: "Gott strafe mich, wenn ich was Schlechtes über ihn sage."

In der anderen Welt, eine Seitenstraße entfernt, lehnt der Koch Süleyman Gül in einer Zigarettenpause an einem Wagen vor dem kleinen Restaurant, in dem er arbeitet. Gül, 50, ist Alevit und wird auf keinen Fall Erdogan wählen. Die Aleviten, eine islamische Minderheit, die sich von der sunnitischen Mehrheit in der Türkei unterdrückt fühlt, tendieren traditionell zu linken Parteien.

Gül will für den Kurdenkandidaten Selahattin Demirtas stimmen. Erdogan-Gegner wie er befürchten, dass unter einem Präsidenten Erdogan die Meinungsfreiheit weiter eingeschränkt und in der Türkei ein autoritäres Regime errichtet wird: "Wenn Erdogan gewinnt, dann ist das eine Katastrophe, dann ist es aus mit der Demokratie."

Nach mehr als zehn Jahren auf dem Posten des Regierungschefs greift der 60-jährige Erdogan an diesem Sonntag nach dem höchsten Staatsamt. Der erfolgreichste türkische Politiker seit einem halben Jahrhundert hat die putschsüchtigen Militärs entmachtet, er hat einen Wirtschaftsboom entfesselt, der den Menschen einen vorher nie dagewesenen Wohlstand beschert hat, er hat die Türkei zu einer Regionalmacht aufsteigen lassen - und er hat die türkische Gesellschaft gespalten wie niemand zuvor.

Ihrem "Tayyip", wie er von Freund und Feind genannt wird, trauen die Türken alles zu: die einen alles Gute, die anderen alles Schlechte. Nach einer Umfrage des US-Instituts Pew schreiben 48 Prozent der Türken ihrem Premier einen positiven Einfluss auf das Land gut - aber ebenso viele sehen einen schlechten Einfluss.

In dem Umfragen liegt "Tayyip" dennoch mit bis zu 57 Prozent weit vorne. Der Gegenkandidat der großen Oppositionsparteien, Ekmeleddin Ihsanoglu, pendelt zwischen 35 und 40 Prozent, der Kurdenkandidat Demirtas bei sechs bis neun Prozent.

Die Verlässlichkeit der Voraussagen wird besonders von Erdogan-Gegnern angezweifelt. Sie argwöhnen, einige regierungsfreundliche Institute wollten den Oppositionswählern das Gefühl vermitteln, dass die Sache gelaufen ist, dass es sich nicht lohnt, am Sonntag zur Urne zu gehen. Bei den Kommunalwahlen im März lagen einige Umfragewerte der Erdogan-Partei AKP rund fünf Prozentpunkte über dem tatsächlichen Ergebnis.

Herausforderer Ihsanoglu warnt zudem vor möglichen Manipulationen. Es seien 71 Millionen Wahlzettel für 53 Millionen Wähler gedruckt worden, sagt er - und stellt die Frage, was mit den 18 Millionen überzähligen Zetteln geschieht. Bei der Stimmenauszählung nach den Kommunalwahlen im März hatte die Opposition viele Schummeleien beklagt. In einigen Städten fiel während der nächtlichen Auszählung plötzlich der Strom aus. Die Regierung erklärte, streunende Katzen seien in Trafohäuschen geschlichen und hätten Kurzschlüsse ausgelöst. Das ganze Land lachte, aber bei einigen war es ein bitteres Lachen.

Schafft Erdogan am Sonntag nicht mindestens 50 Prozent plus eine Stimme, muss er am 24. August in die Stichwahl. Der Alevit Gül ist sicher, dass sein Kandidat Demirtas den niedrigen Umfragewerten zum Trotz mindestens 20 Prozent der Stimmen einfahren wird - was Erdogans Sieg im ersten Wahlgang verhindern würde.

Bei Gül ist natürlich der Wunsch der Vater des Gedankens. Aber es ist nicht zu übersehen, dass der 41-jährige Demirtas einen sehr wirksamen Wahlkampf hingelegt hat, in dem er nicht nur die Kurden ansprach, sondern alle Türken.

"Er ist ein guter Mann", sagt der Istanbuler Riza Arslan. Gerade rattert ein Wahlkampf-Kleinbus mit Demirtas-Bildern durch seine Straße, laute Musik plärrt aus einem Lautsprecher auf dem Autodach. Arslan blickt dem Wagen nach. Er ist AKP-Stammwähler, am Sonntag wird er wieder für Erdogan stimmen. Aber Demirtas nötigt ihm Respekt ab. "Ein guter Mann", wiederholt er. "Leider in der falschen Partei."

Leute wie Arslan können nicht verstehen, was jemand gegen Erdogan haben kann. Für sie zählen der Wirtschaftsaufschwung, die vielen Straßenkilometer, die in den vergangenen Jahren vierspurig ausgebaut wurden, oder die Reformen im Gesundheitssystem, die auch armen Türken den Zugang zu modernen Kliniken ermöglichten. Auch Erdogans autoritärer Führungsstil beeindruckt sie. "Die Türkei braucht einen mutigen Mann an der Spitze", sagt der 31-jährige Osman Göksu.

Deshalb unterstützt er Erdogans Pläne für einen Umbau der Türkei von einer parlamentarischen Demokratie zu einem Präsidialsystem. Im Falle eines Sieges will Erdogan "rennen und schwitzen", wie er sagt, um das Land aus dem Präsidentenpalast zu regieren.

Die derzeitige Verfassung gibt dem Präsidenten nur wenige Machtinstrumente, die er aber voll ausnutzen will, etwa das Recht zur Leitung von Kabinettssitzungen. Mit Verfassungsänderungen will er das neue System in den kommenden Jahren ausbauen. Der neue Ministerpräsident der Türkei wird unter Erdogan wohl nicht viel zu sagen haben.

Mit seinen Plänen für eine "aktive" Präsidentschaft stößt Erdogan in unbekanntes Gebiet vor. Weil die Verfassung die Rolle des Staatsoberhauptes eher passiv beschreibt, gibt es keine feste Regeln. Der niederländische Ex-Europaabgeordnete und Türkeiexperte Joost Lagendijk erwartet deshalb nach einem Wahlsieg Erdogans viele Auseinandersetzungen zwischen dem neuen Staatsoberhaupt und dem Verfassungsgericht, der einzigen Institution im Land, die Erdogan noch Paroli bieten kann. Erdogan strebe ein System an, "das von einem Mann dominiert wird und keine effektiven Kontrollmechanismen hat", schrieb Lagendijk in der Oppositionszeitung "Today's Zaman". Am Sonntag wird sich zeigen, ob sich die Türken auf dieses Experiment einlassen wollen.

Wie die Präsidentschaftswahl funktioniert

Zum ersten Mal bestimmen die Türken am Sonntag ihren Staatspräsidenten in einer Direktwahl durch das Volk. Zur Wahl aufgerufen sind rund 53 Millionen Menschen, die an 161 000 Urnen abstimmen können. Hinzu kommen 2,8 Millionen Wähler im Ausland, die bereits vom 31. Juli bis zum 3. August abstimmen konnten. Deren Beteiligung war mit 8,6 Prozent allerdings gering.

In den Wahllokalen erhalten die Wähler einen Wahlzettel mit den Fotos und Namen der drei Kandidaten: Erdogan, Ihsanoglu und Demirtas. In einen Kreis unter seinen Favoriten drückt der Wähler in der Kabine mit einem Stempel das Wort "Evet" - Ja. Bei der Auszählung der Stimmen sind Vertreter der verschiedenen Parteien anwesend. Wie in der Türkei üblich, darf am Wahltag kein Alkohol verkauft werden. Das vorläufige amtliche Endergebis soll am Tag nach der Wahl bekannt gegeben werden.

Opferrolle trotz aller Erfolge

Sollte Recep Tayyip Erdogan die erste Direktwahl des türkischen Präsidenten gewinnen, setzt er zu einem historischen Rekord an. Im Fall einer Wiederwahl könnte er sogar bis zum Jahr 2024 an der Spitze des Staates bleiben. Dann wäre Erdogan mehr als 20 Jahre an der Macht - länger als Staatsgründer Atatürk. Das hätte bei Erdogans Geburt niemand für möglich gehalten.

Der fromme Muslim aus einfachen Verhältnissen stieg in Istanbul als islamistischer Nachwuchspolitiker auf. Trotz aller politischen Siege und einem halben Dutzend gewonnener Wahlen hat sich eines nicht verändert: Nach wie vor sieht er sich selbst und "seine" Leute als Opfer von Unterdrückung und Arroganz. Diese Weltsicht erstarrte im Laufe der Jahre zu der Überzeugung, dass jede Gegnerschaft gegen die Regierung von dunklen Motiven getragen sein muss. Und genau so handelt Erdogan: Selbst hinter den Protesten von Umweltschützern im vergangenen Jahr ortete er eine internationale Verschwörung.

Hoffnungsträger der Kurden

Mit seinen 41 Jahren ist Selahattin Demirtas, Vorsitzender der Kurdenpartei HDP, der mit Abstand jüngste der drei Präsidentschaftskandidaten. Die Umfragen lassen zwischen sechs und neun Prozent für ihn erwarten. Schafft es Demirtas gar, mehr als zehn Prozent der Stimmen auf sich zu vereinigen, dann könnte sein Wahlergebnis dazu beitragen, einen Sieg von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im ersten Wahlgang am Sonntag zu verhindern.

Der Anwalt Demirtas machte im Wahlkampf eine gute Figur. Er präsentierte sich bewusst als liberale und säkulare Alternative zu Erdogan. So forderte er ein Ende des Pflichtfachs Religion in staatlichen Schulen. Er ließ sich mit seiner Frau und seinen Kindern fotografieren und fuhr bei Wahlkampfauftritten mit dem Fahrrad - ein Novum in der Türkei.

Zudem setzte sich Demirtas geschickt als Zielscheibe von Manipulationsversuchen der Regierung in Szene. Unter anderem beschwerte er sich über die Benachteiligung durch das Staatsfernsehen, das stets in voller Länge über Erdogan-Reden berichtete, Demirtas aber häufig ignorierte.

Unabhängig vom Wahlausgang besteht sein größter Verdienst darin, dass er die Kurden endgültig ins Zentrum der türkischen Politik geholt hat. Mit seinem weltmännisch-gewandten und gemäßigten Auftreten brachte er der nicht-kurdischen Öffentlichkeit in der Türkei ein neues Bild von den Kurden nahe. Dass es in der Türkei einen kurdischen Kandidaten gab und dass sich kaum jemand darüber aufregte, ist ein Zeugnis der Veränderungen, die das Land im vergangenen Jahren erlebt hat.

Ein frommer Muslim gegen Erdogan

Manche in der Türkei bedauern Ekmeleddin Ihsanoglu. Obwohl der 70-jährige über keinerlei Erfahrung mit Parteipolitik und Wahlkämpfen verfügt, stürzte sich der frühere Generalsekretär der islamischen Weltorganisation OIC in den Kampf gegen Recep Tayyip Erdogan, den besten Wahlkämpfer, den die Türkei je gesehen hat.

Als Kandidat aufgestellt wurde Ihsanoglu von den beiden größten Oppositionsparteien des Landes, der säkularistischen CHP und der nationalistischen MHP. Der fromme Muslim sollte es Erdogan unmöglich machen, im Wahlkampf mit der eigenen Religiosität zu punkten. Zudem sollten Alter und Ansehen des Kandidaten die gewohnt rüden Attacken des Premiers zügeln.

Doch Erdogan ließ sich nicht beeindrucken und griff Ihsanoglu als Vertreter einer abgehalfterten Elite an - obwohl er ihn selbst einst an die Spitze der OIC gehievt hatte. In dem Umfragen kommt Ihsanoglu nicht über 40 Prozent hinaus. Das ist zwar respektabel für einen Mann, der den meisten Türken vor kurzem noch unbekannt war, aber es reicht nicht, um Erdogan zu schlagen.

Für den Fall, dass er trotz aller gegenteiligen Voraussagen Präsident wird, hat Ihsanoglu einen neuen Stil des Ausgleichs und der Toleranz in Ankara angekündigt. Allerdings müsste Ihsanoglu als Präsident mit der Regierung Erdogan zurechtkommen, was sicher nicht einfach würde.

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