Regierungsbildung in Deutschland So wahrscheinlich ist die Große Koalition

Berlin · Inhaltlich sind Union und SPD weniger auseinander als die gescheiterten Jamaika-Parteien. Doch wird es wirklich etwas mit der Neuauflage der Großen Koalition?

Die 237 eckigen Klammern um die Streitpunkte im letzten Sondierungspapier der gescheiterten Jamaika-Koalition üben auf Sozialdemokraten neuerdings eine besondere Faszination aus: Diese Streitfragen zwischen Union, FDP und Grünen bieten aus SPD-Sicht eine ideale Grundlage für ihre eigenen Ziele und Forderungen bei den sich jetzt abzeichnenden Verhandlungen mit der Union über eine Neuauflage der großen Koalition. Die Preise, die die SPD für ihr spektakuläres Umsteuern verlangt, werden sehr hoch sein müssen, ist überall in der Partei zu hören. Schon die letzte „Groko“ habe der SPD nicht gut bekommen. Wenn sie das Wagnis nochmals eingehen solle, wolle sie dafür wenigstens besonders gut bezahlt werden.

Für die Union erschwerend kommt hinzu, dass die SPD anders als 2013 ihr Heil in einem Linksschwenk sucht. Um zu verhindern, dass sie nach dem Debakel vom 24. September mit nur noch 20,5 Prozent der Stimmen noch weiter abrutscht, müssen sie von der Union stärker unterscheidbar werden, haben die Sozialdemokraten analysiert. Das geht nur, wenn die SPD ihr linkes, soziales Profil stärkt. Statt einer konservativ-liberalen Jamaika-Koalition mit grünem Anstrich dürfte Deutschland nun eher eine sozialkonservative Regierung erhalten, die weniger auf Modernisierung als auf Umverteilung von oben nach unten setzt – und von Jüngeren zu Älteren.

Den Soli wollte auch die SPD abschaffen, allerdings zunächst nur für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen bis 50 000 Euro im Jahr. Besserverdienende dürften anders als bei Jamaika erst später oder gar nicht steuerlich entlastet werden, wenn es zur „Groko“ kommt. Auch bei der Erbschaftsteuer verlangt die SPD eine Reform, denn reiche Firmenerben bleiben oft steuerfrei.

Elke Ferner, die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (ASF), gibt bereits den Kurs in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik vor. „Es ist jetzt an der Union, Vertrauen wieder aufzubauen“, sagte sie. Vorhaben wie die Solidarrente für Geringverdiener und das Rückkehrrecht von Teilzeit zur Vollzeit seien schon im bisherigen Koalitionsvertrag vereinbart und von der Union blockiert worden. „Die Union kann ihre Blockade jetzt aufgeben und beide Gesetzentwürfe mit uns beschließen“, sagte sie. Dass die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen bei einer SPD-Regierungsbeteiligung entfiele, wäre ebenso selbstverständlich: Auch Jamaika wollte sie abschaffen.

Aufhorchen ließ Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), als er jüngst die Anhebung des Mindestlohns von derzeit 8,80 auf zwölf Euro pro Stunde forderte. Der Schritt war ein frühes Zeichen für den Linksruck der Partei, denn Scholz galt stets als wirtschaftsfreundlicher Genosse. Die Union wird zwölf Euro Mindestlohn zwar nie akzeptieren, doch das bisherige Lohnfindungsverfahren durch eine Kommission aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern könnte unter Druck geraten. Dass vor allem die Löhne in der Pflege deutlicher steigen müssen, hat sich auch die Union auf die Fahnen geschrieben.

Auch ihr ewiges Lieblingsprojekt, die Fusion der gesetzlichen mit der privaten Krankenversicherung in einer Bürgerversicherung, wollen die Sozialdemokraten durchsetzen. Auch dagegen ist stärkster Widerstand der Union zu erwarten. Das mit Abstand teuerste Unterfangen ist bei der Rente zu erwarten: Die SPD will das Rentenniveau dauerhaft bei 48 Prozent des Durchschnittslohns stabilisieren. Das würde die Rentenversicherung zweistellige Milliardenbeträge im Jahr kosten, so dass die Beitragssätze und die Steuerzuschüsse stärker steigen müssten. Bisher vorgesehen ist, dass das Rentenniveau wegen der demografischen Entwicklung bis 2030 auf etwa 44 Prozent sinkt, für die Zeit danach gibt es noch keine Regelung.

Konflikte zeichnen sich eher in der Verteidigungspolitik ab, weil die SPD weniger aufrüsten möchte als die Union. Und beim Kohleausstieg dürfte die SPD eher bremsen, allerdings wollen auch die Sozialdemokraten die Klimaziele 2020 bis 2050 einhalten.

Einfacher als Jamaika hätte es eine „Groko“ vor allem in der Europapolitik. Union und SPD fahren einen weniger europa-skeptischen Kurs als die FDP, weshalb trotz der unklaren Lage nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen in vielen europäischen Hauptstädten ein Aufatmen zu spüren war. Mancher in den beiden Volksparteien gibt einer neuen „Groko“ schon den Titel „Koalition der Europafreunde“.

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