Sechs Monate nach dem Brexit So steht es um Großbritanniens EU-Austritt

Bonn · Der 24. Juni war ein historisches Votum, das in Europa Entsetzen auslöste. Die Briten sprachen sich damals für den Austritt aus der Europäischen Union aus. So ist der Status sechs Monate später.

 Blick in Richtung Brexit: Premierministerin Theresa May verkündet, dass sie die Austrittserklärung gemäß Artikel 50 des Vertrags von Lissabon bis Ende März nach Brüssel schicken will.

Blick in Richtung Brexit: Premierministerin Theresa May verkündet, dass sie die Austrittserklärung gemäß Artikel 50 des Vertrags von Lissabon bis Ende März nach Brüssel schicken will.

Foto: picture alliance / dpa

Schon in den frühen Morgenstunden des 24. Juni zeichnete sich das Ergebnis ab, das bis heute sowohl die Schlagzeilen auf der Insel als auch Tischgespräche im ganzen Königreich bestimmt:

Die Mehrheit der Bevölkerung hat beim Referendum um die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens für den Austritt gestimmt. Das Kabinett wurde fast komplett ausgetauscht, nachdem der konservative, pro-europäische Premierminister David Cameron am Tag der Niederlage zurückgetreten war und Theresa May wenige Wochen später übernommen hat.

Nun sind fast sechs Monate vergangen.

Wo steht Großbritannien?

„Brexit bedeutet Brexit“, wiederholte Regierungschefin Theresa May wie ein Mantra, manchmal fügte sie wie zur eigenen Beruhigung hinzu, man werde daraus einen Erfolg machen. Damit will sie sowohl den EU-Gegnern in den eigenen Parteireihen als auch den Wählern demonstrieren, dass sie den Willen des Volks respektieren werde. Die ehemalige Innenministerin gehörte zu den Befürwortern der Gemeinschaft, auch wenn sie sich während des Wahlkampfs auffällig zurückgehalten hat.

Was bedeutet Brexit?

Noch immer herrschen zahlreiche Debatten darüber, wie die Scheidung von Brüssel in der Praxis aussehen könnte. Mit konkreten Aussagen hält sich die Regierung zurück – zum Verdruss der Opposition, der Medien und politischen Beobachter. Aus dem Regierungssitz in Downing Street Nummer Zehn heißt es, man wolle die Karten nicht auf den Tisch legen, um die eigene Verhandlungsposition nicht zu schwächen. Kritiker von May meinen dagegen, die Regierung habe schlicht keinen Plan. Tatsächlich aber steckt die Premierministerin in einem Dilemma.

Wieso?

In den konservativen Reihen gehen die Vorstellungen, wie ein Königreich außerhalb der Gemeinschaft aussehen könnte, weit auseinander. Es gibt sogar offene Differenzen zwischen den sogenannten drei „Brexiteers“, allesamt Hardliner in Bezug auf Brüssel: Außenminister Boris Johnson, Handelsminister Liam Fox und Brexit-Minister David Davies. Für viele Unternehmen, Banken und Dienstleister, ob aus Großbritannien, den USA oder Asien, ist dagegen der freie Zugang zum gemeinsamen europäischen Binnenmarkt entscheidend.

Die Wirtschafts- und Finanzwelt appelliert regelmäßig an die Regierung, den Weg in Richtung eines weichen Brexit einzuschlagen und den harten Brexit, die radikale Abkehr von Europa, zu vermeiden. Doch etliche Menschen stimmten für den Austritt, um die Einwanderung aus EU-Mitgliedstaaten künftig kontrollieren zu können. Das Reizthema dominiert seit Monaten die Diskussionen und May hat bereits mehrfach versprochen, die Zahl der Migranten zu begrenzen.

Wie reagiert die Europäische Union auf die Äußerungen aus London?

Die Personenfreizügigkeit gehöre zu den vier Grundprinzipien der Gemeinschaft, schallt es regelmäßig auf die Insel. Erst diese Woche hat EU-Chefunterhändler Michel Barnier betont, dass der Binnenmarkt nicht von seinen vier Grundfreiheiten getrennt werden könne. „Rosinenpicken ist keine Option.“ Drittländer, zu denen in Zukunft auch das Königreich zählt, könnten nie dieselben Rechte haben wie die Mitgliedstaaten.

In Großbritannien dagegen will man das so nicht akzeptieren. Schon jetzt versuchen EU-Gegner, die Schuld für anstehende komplizierte Verhandlungen und einen möglichen Nachteil für das Königreich auf dem Kontinent zu suchen. So drohte eine Pub-Kette etwa, man werde deutsches Bier und französischen Wein boykottieren. Außenminister Johnson meinte in Richtung Italien, das Land werde weniger Prosecco auf der Insel verkaufen, wenn der zollfreie Warenverkehr nicht gewährleistet sei. In Brüssel kommen solche Aussagen alles andere als gut an.

Wann wird das Brexit-Votum denn umgesetzt?

Theresa May hat angekündigt, das Austrittsabkommen nach Artikel 50 des EU-Vertrags von Lissabon bis Ende März einzuleiten. Dazu ist eine schriftliche offizielle Austrittserklärung notwendig. Die auf zwei Jahre begrenzten Verhandlungen würden dann beginnen. Doch der Zeitplan könnte sich erheblich verschieben. Anfang November entschied ein Gericht in London, dass die Regierung das Parlament befragen muss, bevor sie Artikel 50 in Kraft setzen kann.

Die Kläger hatten argumentiert, dass ein EU-Ausstieg den Briten fundamentale Rechte entziehen würde, die seit der Übernahme des Europäischen Gemeinschaftsrechts von 1972 gelten. Das sei ein gravierender Eingriff und benötige deshalb die Zustimmung der Abgeordneten. Dowing Street hatte das Urteil nicht akzeptiert und den Supreme Court angerufen. Nun muss das höchste Gericht des Landes in einem der politischsten Verfahren in der britischen Rechtsgeschichte darüber entscheiden. Bis zum heutigen Donnerstag läuft die Anhörung.

Wie argumentiert die Regierungsseite?

Es weht ein Hauch von Mittelalter über die Insel. Denn Theresa Mays Juristen verweisen auf ein Hoheitsrecht des britischen Monarchen, etwas allein zu entscheiden, ohne vorher das Parlament zu befragen. Heutzutage überlässt die Königin zwar die Politik den gewählten Volksvertretern. Doch vor Gericht hieß es von Regierungsseite, dass das royale Vorrecht noch immer seine Berechtigung habe, insbesondere wenn es um internationale ⋌Beziehungen gehe.

Könnte es noch einen Exit vom Brexit geben?

Das ist beinahe ausgeschlossen. Zwar pochen neben den Europafreunden, die nun vor Gericht ihren Fall erläutern, auch die Regionalregierungen in Schottland und Wales auf parlamentarische Mitsprache. Doch wer das Volk befragt, muss sich anschließend auch dessen Willen beugen.

Das Parlament hat im Übrigen ja erst ein Referendum ermöglicht. Zudem befürchten nicht wenige Menschen eine Revolte, sollte das mehrheitlich pro-europäische Parlament das Votum ignorieren. Die Situation auf der Insel ist ohnehin schon emotional aufgeladen. Insbesondere von Seiten der Europaskeptiker hallt scharfe Kritik in Richtung des Supreme Courts, unterstützt von einer aggressiven Anti-EU-Berichterstattung der rechtskonservativen Boulevardpresse.

Dabei befinden die höchsten Richter, deren Urteil für Januar erwartet wird, nicht über den EU-Ausstieg. Es geht allein um die Klärung der rechtlichen Lage. Darf die Regierung das Votum selbstständig und direkt umsetzen? Oder bedarf es der Zustimmung des Parlaments?

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