Migration in der Schweiz Schweiz will EU-Zuwanderung begrenzen

Genf · Die Schweiz will die Zuwanderung aus der Europäischen Union drosseln – trotz des Abkommens über Personenfreizügigkeit. Kommt es zu keiner Einigung, dürfte das vor allem für die Eidgenossen unliebsame wirtschaftliche Auswirkungen haben.

 Die Schweizer haben sich in einer Volksabstimmung überraschend dafür ausgesprochen, die Zuwanderung aus der EU zu begrenzen.

Die Schweizer haben sich in einer Volksabstimmung überraschend dafür ausgesprochen, die Zuwanderung aus der EU zu begrenzen.

Foto: picture alliance / dpa

Geht es um die Europäische Union haben die Schweiz und Großbritannien viel gemeinsam. Politiker beider Länder wettern gegen die EU. Brüssel wird für fast sämtliche Übel verantwortlich gemacht.

Genau wie die Briten liegen die Eidgenossen mit der EU besonders wegen der Einwanderung im Clinch: Die übermächtige EU beharrt auf der Personenfreizügigkeit mit dem Juniorpartner Schweiz. Die Eidgenossen jedoch müssen den Zuzug aus dem EU-Raum begrenzen – so entschieden es die Bürger in einer Volksabstimmung. Falls sich die Streithähne nicht einigen, droht ein wirtschaftlicher Bruch.

Das wäre schlecht für beide Seiten, besonders aber für die Schweiz: Gut 55 Prozent der Schweizer Exporte gehen in die EU. Aber: Nur acht Prozent der Exporte aus der EU landen in der Schweiz.

Wie prekär die Lage ist brachte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf den Punkt: Nach einem Treffen mit dem Schweizer Bundespräsidenten Johann Schneider-Ammann in Zürich sagte Juncker: „Wenn man am Ende eines Gesprächs sagt, es sei ein konstruktives Gespräch gewesen, heißt das meistens, dass man auf keinen grünen Zweig gekommen ist.“ Dann stellte Juncker trocken fest: „Unseres war ein konstruktives Gespräch.“

Das Verhältnis Schweiz-EU gestaltete sich im vergangenen Jahrhundert durchaus harmonisch: Im Jahr 1999 einigten sich Bern und Brüssel auf die sogenannten bilateralen Abkommen. Zentrales Element der sieben Teilabkommen ist die Personenfreizügigkeit. Auch ermöglichen die bilateralen Abkommen Helvetiens Wirtschaft „einen weitgehenden Zugang zum EU-Binnenmarkt“, wie die Regierung hervorhebt.

Somit bilden die Abkommen bis heute das Fundament der Beziehungen zur EU.

Doch das Fundament bröckelt. Denn 2014 zeigten sich die Schweizer in einer Volksabstimmung von ihrer harten Seite. Sie sagten mit hauchdünner Mehrheit Ja zu der „Masseneinwanderungsinitiative“. Sie sagten Ja zu Kontingenten und Obergrenzen für Einwanderer. Die Beschränkungen haben seitdem Verfassungsrang.

Für die Abschottungsstrategie hatte die Schweizerische Volkspartei getrommelt. Mit dem Ja der Stimmbürger zu der „Masseneinwanderungsinitiative“ feierte die rechtsnationale SVP einen ihrer größten Triumphe – die Volkspartei krönte damit eine jahrzehntelange, beinharte Kampagne gegen Ausländer und „Überfremdung“.

Mit ihrem Ja zur „Masseneinwanderungsinitiative“ sagten die Schweizer aber auch Nein zum EU-Abkommen über die Personenfreizügigkeit.

Auf eine Kurzformel gebracht: Personenfreizügigkeit und Kontingente für Ausländer schließen sich aus. „Das ist eine Quadratur des Kreises, wir wissen das hinlänglich“, gibt Bundespräsident Schneider-Ammann zu.

Seit dem Nein des Volkes mühen sich Regierung und Parlament, das EU-Abkommen zur Freizügigkeit mit dem Verfassungsartikel über die gedrosselte Zuwanderung unter einen Hut zu bringen. Bislang ohne Erfolg. Zuletzt stimmte die große Parlamentskammer, der Nationalrat, einem umstrittenen Vorschlag zu.

Im Kern sieht der Plan, bekannt als „Inländervorrang light“, eine Meldepflicht vor: Unternehmen müssen freie Jobs den Arbeitsagenturen melden. Keine Firma aber wird verpflichtet, Inländer einzustellen. Nur wenn die Zuwanderung zu schweren wirtschaftlichen oder sozialen Störungen führt, kann die Schweiz „Abhilfemaßnahmen“ ergreifen. Von Obergrenzen und Kontingenten ist in dem Plan nicht mehr die Rede. Bis Ende des Jahres muss sich nun die kleine Kammer des Parlaments, der Ständerat, mit dem brisanten Dossier herumschlagen.

Die Entscheidung des Nationalrates kommt bei vielen Experten schlecht an. „Die Schweizer Migrationspolitik wird immer abstruser“, kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger (siehe Interview). „Der Nationalrat ignoriert mit dem Beschluss die vom Volk knapp angenommene Masseneinwanderungsinitiative.“

Kein Wunder, dass auch die Schweizerische Volkspartei empört reagiert. Der Beschluss des Nationalrates sei ein in „Hochglanz verpackter Verfassungsbruch“, schimpft der Fraktionsvorsitzende Adrian Amstutz.

Jetzt droht die SVP mit einem neuen Referendum über die endgültige Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU. Falls die Schweiz aber das Abkommen zur Freizügigkeit beendet, dann wären auch alle anderen sechs Teilabkommen der Bilateralen mit der EU null und nichtig.

Und die Eidgenossen müssten ihre wirtschaftlichen Beziehungen zur EU völlig neu verhandeln. Dann hätten Schweizer und Briten eine weitere Gemeinsamkeit.

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