100. Jahrestag Russland feiert Jubiläum der Oktoberrevolution

Russland · In Russland stehen die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Sturms auf das Winterpalais in St. Petersburg an. Ein sperriges Jubiläum, auch, weil das weltpolitische Ereignis nicht mehr als ein mittelmäßiger Staatsstreich war.

 Im Winterpalast in der russischen Stadt St. Petersburg weist eine hohe Plakatwand auf eine Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution hin.

Im Winterpalast in der russischen Stadt St. Petersburg weist eine hohe Plakatwand auf eine Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution hin.

Foto: dpa

Die Kronstädter Matrosen kamen durch die Hintertür vom Newa-Ufer her. „Energisches Klopfen, ein grau livrierter Diener öffnet verängstigt. ,Wo kommen wir hier zur Provisorischen Regierung?'”, beschrieb der Sowjethistoriker Witali Strelzow 1988 noch in pathetischem Stil die Szene. Aber er veröffentlichte schon Details, die dem offiziellen Mythos von „Sturm“ widersprachen. Die Revolutionsmatrosen hätten sich in den knapp 1100 Räumen des Winterpalasts verlaufen, seien zu Dutzenden von Offiziersschüler entwaffnet worden. Dann hätten sie mit ihren Bewachern diskutiert, ob die sich nicht besser ergeben sollten.

Auf der Uferpromenade schlendert Oleg, ein Tourist aus Anapa am Schwarzen Meer, mit einem Pappbecher Kaffee an der Parterre-Holztür vorbei. Ja, natürlich wisse er von der Oktoberrevolution. „Wir haben sie auch an der juristischen Fakultät durchgenommen.“ Hinterher seien Schmieden und Werkstätten erlaubt worden. Die habe es ja vorher nicht gegeben. „Ich weiß gar nicht, was Russland ohne Revolution gemacht hätte.“

Am 7. November 1917, nach dem im Zarenreich gültigen julianischen Kalender am 25. Oktober, fand im damaligen Petrograd die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ statt. Sie gilt bis heute als Wendepunkt der Weltgeschichte. Dabei war sie nur ein mittelmäßiger Militärputsch.

Die wirkliche Revolution, im März: Russland war drauf und dran, den 1. Weltkrieg gegen Deutschland zu verlieren, Hunderttausende Hauptstädter gingen auf die Straße, die Garderegimenter meuterten, der Zar dankte ab. In Petrograd etablierte sich eine Doppelmacht: die nationaldemokratische Provisorische Regierung gegen die Arbeiter- und Soldatenräte unter dem Einfluss des Bolschewisten Wladimir Lenin. „Die Bolschewisten siegten, weil sie am zynischsten waren“, sagt der Petersburger Historiker Konstantin Schukow. Die Provisorische Regierung wollte den Krieg fortsetzen und wurde immer unpopulärer. Lenin und Genossen aber punkteten mit den Schlagworten „Frieden“, „Brot“ und „Land“. Das kam vor allem bei der Armee an, die sich meist aus Bauern rekrutierte.

Am 6. November begannen bewaffnete Bolschewisten, Bahnhöfe und Brücken zu besetzen. „Alle wichtigen Punkte der Stadt gehen in unsere Hände über“, schrieb Leo Trotzki, der die Aktion befehligte, „ohne Kampf, ohne Opfer.“ Kaum ein Soldat hatte Lust, das Regime zu verteidigen, das ihn wieder an die Front schicken wollte. Die mit Kundgebungen übersättigte Bevölkerung nahm den Machtwechsel kaum zur Kenntnis.

„Revolution bedeutet den Wechsel eines Gesellschaftssystems durch ein anderes unter Anteilnahme des Volks“, sagt Historiker Schukow. „Die sogenannte Oktoberrevolution war schlicht ein Staatsstreich.“

Blieb noch eine Formalität: Die Festnahme der Minister im Winterpalast, den die Bolschewisten umstellt hatten. Ihn verteidigten eine Schwadron Donkosaken, eine weibliche Freiwilligenkompanie und über 2000 „Junker“, Offiziersschüler immerhin. Aber nur noch zehn Prozent der Junker waren Adlige, die übrigen Bauern, Arbeiter, Handwerker. Es folgten einige Schießereien, auch die meisten Junker zielten in den Nachthimmel. Dazwischen palaverten die Verteidiger immer wieder mit Vertretern der Bolschewisten. Im Ergebnis zogen die Amazonen ab, die Kosaken auch.

Rote Artilleristen eröffneten eine eher lausige Kanonade: 40 Schüsse mit Übungsmunition oder wirkungsschwachen Schrapnells. Trotzki schimpfte hinterher, sie hätten auch noch zu hoch gezielt. Neue Gespräche, danach verließen wieder Hunderte Junker den Palast. Gegen ein Uhr nachts meldete ein Beobachter, der über dem linken Portal des Palastes ausharrte: „Eine Delegation von 300 bis 400 Mann nähert sich.“ Auch deren bolschewistischer Anführer Wladimir Antonow-Owsejenko vermerkte keinerlei Kampfhandlungen: „Die Junker leisteten keinen Widerstand mehr, wir kamen ungehindert ins Innere des Palastes und begannen, die Provisorische Regierung zu suchen.“ Sie wurde 50 Minuten später verhaftet.

Die genauen Verluste sind unbekannt: Antonow-Owsejenko meldete sechs gefallene Soldaten, auf Seiten der Verteidiger soll es nur Verwundete gegeben haben. Dafür gab es Schnapsleichen haufenweise, das revolutionäre Fußvolk entdeckte die Weinkeller des Zaren, das Massenbesäufnis setzte sich mit der Plünderung anderer Alkohollager fort. „Ganz Petrograd ist betrunken“, schreibt die Dichterin Sinaida Gippius noch Wochen später. Nach dieser Farce begann Russlands Tragödie, der Bürgerkrieg mit neun Millionen Toten. Die Bolschewisten aber wollten auch die Deutungshoheit über das Jahr 2017 erobern. Gemeinsam mit sympathisierenden Intellektuellen verklärten sie „den Sturm auf den Winterpalast“ zum dramatischen Heilshöhepunkt der Menschheitsgeschichte.

Es hagelte Gemälde, Gedichte, Filme, die eine blutig-heldenhafte Schlacht um den Winterpalast kreierten. Den dritten Jahrestag des Sturms feierte man mit einem Massenschauspiel vor Ort. 1927 brannte Filmregisseur Sergei Eisenstein mit seinem legendären Stummfilm „Oktober“ die Heldenikone des roten Revolutionärs, der stürmt, stirbt, aber siegt, endgültig in das Bewusstsein der Sowjetgesellschaft ein. Fotos seiner Massenszenen schafften es als Illustrationen zum „Sturm“ des Winterpalasts auch in westliche Schulbücher.

Wladimir Putins Russland steht dem 100. Jahrestag des Ereignisses ziemlich unschlüssig gegenüber. Einerseits streiten die Experten, wie viele Opfer der Terror der Sowjetzeit gekostet hat. Andererseits feiert man Josef Stalin als Sieger über Hitler. Laut dem Meinungsforschungsinstitut WZIOM betrachten 46 Prozent der Russen die Folgen des Umsturzes von 1917 positiv, 46 Prozent negativ. „Die Revolution spaltet die Gesellschaft“, erklärt der Historiker Boris Kolonizki. „Man hatte lange vorgezogen, sie zu vergessen, jetzt will man sie irgendwie durchstehen.“

Zum Jubiläum plant man vor dem Winterpalast eine Lasershow und in Moskau ein Jugendsymphoniekonzert, Titel „Zukunft“. Als ließe man das Jahr 1917 selbst lieber ruhen.

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