Chemiewaffen-Experte Paul Walker über das tödliche Erbe der Weltkriege

BONN · Sein halbes Leben hat Paul Walker dem Kampf für die Vernichtung der Chemiewaffen gewidmet, im vergangenen Jahr wurde er dafür mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

 Kampf gegen Chemiewaffen: Paul Walker.

Kampf gegen Chemiewaffen: Paul Walker.

Foto: Barbara Frommann

Wenn er über seine Arbeit erzählt, wie jetzt im Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn auf einer Veranstaltung des Bonn International Centers for Conversion (BICC), kommt er an einem Datum nicht vorbei: dem 22. April 1915.

An diesem Tag setzte die deutsche Armee in der zweiten Flandernschlacht bei Ypern in Belgien zum ersten Mal in großem Stil Giftgas ein. 150 Tonnen Chlorgas wurden freigesetzt, es strömte über die Schlachtfelder und legte sich - da schwerer als Luft - in die französischen Schützengräben. 1200 Tote und rund 3000 Verwundete waren die Folge. Insgesamt sollten es im Verlauf des Krieges 90 000 Tote und eine Million Verletzte werden, die Opfer der von Deutschen, Briten, Franzosen und US-Amerikanern eingesetzten neuen Waffen wurden.

Weil deren Wirkung so fürchterlich war, wurde ihr Einsatz schon 1925 mit dem Genfer Protokoll gebannt. Die 1997 in Kraft getretene Chemiewaffen-Konvention verbot zudem ihre Entwicklung, Produktion und Lagerung. Doch gelöst war das Problem damit noch nicht: Die acht Länder (USA, Russland, Indien, Südkorea, Libyen, Albanien, Irak und zuletzt Syrien), die sich zum Chemiewaffen-Besitz bekannten, hatten rund 73 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe angehäuft, die vernichtet werden mussten. Und da kommen Menschen wie Paul Walker ins Spiel.

Vielleicht, so mutmaßte BICC-Chef Conrad Schetter, sei es sein verschlungener Lebensweg gewesen, der ihn zum unermüdlichen Aktivisten gegen Massenvernichtungswaffen machte. 1946 in den USA geboren, studierte er an einer Jesuitenuniversität Sprachen, bevor er im Kalten Krieg in einer Spezialmission für den US-Militärgeheimdienst an der damaligen Zonengrenze in Helmstedt zum Einsatz kam. Zurück in den USA studierte Walker in den 70er Jahren Politische Wissenschaft in Washington und Harvard und engagierte sich mit Kollegen für die Atomwaffenkontrolle. Seit Mitte der 90er Jahre ist er Direktor des Umweltsicherheitsprogramms des von Michail Gorbatschow gegründeten Grünen Kreuzes.

1994, Walker war beratendes Mitglied des Streitkräfteausschusses des Repräsentantenhauses in Washington, organisierte er die erste US-Inspektion eines Chemiewaffendepots in Russland. "Wir waren entsetzt", erinnert er sich, "da waren Tausende von Waffen völlig ungesichert gelagert." Seitdem hat sich viel geändert. Die USA, die über 28 600 Tonnen Chemiewaffen verfügten, haben 90 Prozent der Bestände vernichtet, Russland (40 000 Tonnen) immerhin 76 Prozent. In den meisten anderen Ländern liegt die Quote bei 100 Prozent.

Dass es in Syrien, das seine Bestände im vergangenen Jahr erklärt hat, mit der Vernichtung langsamer vorangeht als geplant, überrascht den Experten angesichts der Umstände nicht. "Natürlich verletzt Syrien damit das Abkommen, aber das tun die USA und Russland auch: 2012 sollte die Vernichtung abgeschlossen sein, jetzt dauert es wohl noch bis zu zehn Jahre."

Sorgen macht Walker etwas anderes: Hunderttausende von Chemiewaffen wurden nach dem Weltkrieg einfach vergraben oder in Meeren und Binnenseen versenkt. Sogar in einem Wohnviertel in Washington würden seit 1993 solche Waffen gefunden, oder bei der Verlegung der North-Stream-Pipeline in der Ostsee.

"Die wurde dann einfach im Zickzack-Kurs um die Fundstellen herumverlegt", so Walker. Welche Folgen für Umwelt und Gesundheit entstehen, wenn die Behälter durchrosten und sich das Gift im Wasser auflöst, sei kaum erforscht. "Die Ächtung einer ganzen Klasse von Massenvernichtungswaffen ist ein historischer Erfolg", sagt Walker. "Aber wir zahlen noch immer einen hohen Preis für das tödliche Erbe der Weltkriege."

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