Regierungsbildung in Großbritannien Paukenschlag zum Dienstantritt

London · Theresa May macht nicht nur Boris Johnson zum Außenminister, sondern wechselt fast das gesamte Kabinett aus. Mit einem ausgeglichenen Team will sie die in der Europafrage tief gespaltene Tory-Partei versöhnen.

 Liam Fox ist als Handelsminister künftig dafür zuständig, neue Abkommen mit Ländern außerhalb der EU zu schließen.

Liam Fox ist als Handelsminister künftig dafür zuständig, neue Abkommen mit Ländern außerhalb der EU zu schließen.

Foto: AP

Überschwänglich und impulsiv, ja, das ist Boris Johnson ohne Zweifel und nicht zu selten. Während eines Tokio-Besuchs im vergangenen Jahr spielte der damalige Bürgermeister Londons Rugby mit japanischen Schulkindern. Dann ging es mit Johnson, gekleidet in Hemd, Krawatte und Anzughose, irgendwie durch. Wie von Sinnen raste er übers Feld und mähte dabei ohne Rücksicht auf Verluste einen kleinen Jungen um. Große Verletzungen gab es nicht, viel Häme auf der Insel schon.

Diese und ähnliche Szenen wurden am Donnerstag in Dauerschleife im britischen Fernsehen gezeigt. Seht her, das ist unser neuer Außenminister, lautete die Botschaft, und es schwang eine gewisse Fassungslosigkeit mit. Denn es war ein Paukenschlag, der am Mittwochabend durch das Königreich hallte: Die neue Premierministerin Theresa May bestimmte Boris, wie er nur genannt wird, zum Chefdiplomaten – und damit den lautstärksten EU-Austrittsbefürworter, der als Favorit auf die Nachfolge von David Cameron gehandelt wurde und dann überraschend auf eine Kandidatur verzichtete. Nie zuvor besetzte Johnson einen Posten im Kabinett, jetzt erhielt er gleich einen der prestigeträchtigsten.

Doch nicht nur der mittlerweile wegen seiner polemischen Kampagne auf der Insel umstrittene Johnson ist künftig für die außenpolitischen Beziehungen Großbritanniens zuständig. David Davis – der 67-Jährige gehört seit vielen Jahren zu den größten EU-Kritikern des Landes – übernimmt den neu geschaffenen Posten des Brexit-Ministers und soll demnach als Staatssekretär die Details der Scheidung von der EU organisieren. Damit entzieht May dem Außenminister ein bedeutendes Feld, Johnson wird es nur am Rande mit Brüssel zu tun bekommen.

Das Handelsministerium leitet künftig Liam Fox, ebenfalls Mitglied des „Leave“-Lagers. Hier wird es vor allem darum gehen, neue Abkommen mit Ländern außerhalb der EU zu schließen. Damit überträgt Theresa May die Verantwortung für den Erfolg des EU-Austritts an drei prominente Brexiteers.

Die Konservative will mit einem ausgeglichenen Kabinett die in der Europafrage tief gespaltene Tory-Partei versöhnen und den Brexit-Wählern zeigen, dass sie es mit dem Abschied aus Brüssel ernst meint – auch wenn May den EU–Befürwortern angehörte und damit auf der Verliererseite stand.

„Die Nacht der langen Messer verwandelte sich in einen Morgen des Fleischerbeils“, kommentierte gestern ein BBC-Reporter die aufregenden Stunden. Tatsächlich nahm die Premierministerin die größte Kabinettsumbildung seit sehr langer Zeit vor. Fast wähnte man sich bei einem Regierungswechsel. Schon am Mittwochabend entließ sie Schatzkanzler George Osborne, den ehemaligen Kronprinzen von David Cameron, und ersetzte ihn durch den bisherigen Außenminister Philip Hammond.

Am Donnerstag wurden dann zahlreiche Politveteranen wie Justizminister Michael Gove, Bildungsministerin Nicky Morgan sowie Kulturminister John Whittingdale auf die hinteren Bänke des Parlaments verbannt. Wenig überraschend traf es Gove, der nicht nur seinen Brexit-Kampagnenkollegen Boris Johnson auf hinterhältige Weise absägte, sondern auch immer wieder mit May aneinandergeriet.

Die Einzigen, die gestern auf demselben Stuhl saßen wie am Tag zuvor, sind Verteidigungsminister Michael Fallon und Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Die neue Bildungsministerin heißt Justine Greening, eine enge Vertraute von May, die zuvor dem Entwicklungshilfeministerium vorsaß. Justizministerin ist Liz Truss. Beide hatten sich für den Verbleib in der EU ausgesprochen.

„Kann man sich Boris in einem Meeting mit Wladimir Putin vorstellen?“ Die Frage kam sowohl in den Medien als auch auf der Straße unaufhörlich auf. Der Schock saß tief ob der überraschenden Ernennung, in den sozialen Medien dominierte der Spott. Ausgerechnet dieser schrille Exzentriker, der die EU-Politik mit jener von Hitler und Napoleon gleichsetzte.

Der US-Präsident Barack Obama aufgrund dessen „teilkenianischer Herkunft“ einer „ererbten Antipathie gegenüber Großbritannien“ bezichtigte. Der den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit einem Limerick, in dem auch das Wort „Ziege“ eine Rolle spielte, beleidigte. Der Hillary Clinton einmal mit einer „Krankenschwester in einer Irrenanstalt“ verglich.

Es gibt kaum einen Spitzenpolitiker, über den der rhetorisch versierte Querkopf nicht schon einmal markige Sprüche gerissen hat. Er selbst schien überrascht von seinem Comeback und sah alles andere als erfreut aus. „Lass den Spaß beginnen“, schrieb am Donnerstag eine Zeitung. Doch es klang so gar nicht nach einem Witz.

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