Tod von Michael Brown Obamas Albtraum

WASHINGTON · Dass Michael Brown sein Sohn gewesen sein könnte, hat Barack Obama diesmal nicht erwähnt. Dieser seltene rhetorische Schulterschluss eines amerikanischen Präsidenten mit einem unbewaffneten, afroamerikanischen Jungen, der sinnlos sterben musste, bleibt für immer mit dem Namen Trayvon Martin verbunden; jenem 17-Jährigen, der 2012 in Florida der Schieß- und Kontrollwut eines selbst ernannten Nachbarschaftswächters zum Opfer fiel.

 Demonstranten versammeln sich in Ferguson an dem Ort, an dem Michael Brown starb.

Demonstranten versammeln sich in Ferguson an dem Ort, an dem Michael Brown starb.

Foto: dpa

Dabei ist die Konstellation, der sich der Präsident nun schon zum zweiten Mal ("Jetzt ist Zeit zur Heilung und Zeit zum Frieden") während seines Sommerurlaubs widmete, noch prekärer. In Ferguson hat vor einer Woche ein weißer Polizist einen 18-jährigen Schwarzen mit mehr als einem halben Dutzend Schüssen aus seiner Dienstpistole erschossen. Warum, weiß bis heute niemand.

Tathergang und Motive für die Eskalation liegen im Dunkeln. Aber: Michael Brown war unbewaffnet, nicht vorbestraft, als unaggressiv bekannt und ein Musterschüler auf dem Weg zur Universität.

Und: Bevor ihn die tödlichen Kugeln trafen, soll der junge Mann, der auf dem Weg zu seiner Oma war, mit erhobenen Händen vor dem Schützen gestanden haben, sagen Augenzeugen. Seither kommt das 21.000 Einwohner zählende Nest im US-Bundesstaat Missouri nicht mehr zur Ruhe.

Ein Vermummter in einer gewaltigen Wolke aus Tränengas zierte Mitte dieser Woche das Titelbild der führenden Lokalzeitung "St Louis Post-Dispatch". Versehen mit der Überschrift: "Eine Stadt am Abgrund." Die gespenstische Szene, die optisch an Gewaltexplosionen im Nahen Osten erinnert, ist nicht geschönt.

Das zu 64 Prozent schwarze Ferguson, dessen Polizei zu 94 Prozent weiß ist, befindet sich im Ausnahmezustand und ruft nach Vergeltung. "Wir verlangen, dass der Beamte verhaftet wird, ins Gefängnis kommt und wegen Mordes angeklagt wird," sagt stellvertretend für viele Reverend James Stewart, Pastor der nah am Tatort gelegenen Murchison Tabernacle Kirche.

Die "black community" wittert eine Verschwörung. Und findet sich bestätigt, seit die Polizei auf die allabendlich stattfindenden Proteste, denen vereinzelt auch Brandschatzung und Plünderungen folgten, völlig überzogen reagiert: Mit Tränengas, Rauchbomben, Gummigeschossen und Robocops in kriegerischer Schwerst-Montur, wie man sie aus dem Irak oder aus Afghanistan kennt, versuchten diverse Polizeibosse aus Stadt und Landkreis die öffentliche Ruhe bis zuletzt herbeizuknüppeln. Vergebens. "Keine Gerechtigkeit, kein Frieden", skandieren die Demonstranten. Und kommen immer wieder.

Seit die Unverhältnismäßigkeit der von der Staatsmacht eingesetzten Mittel auf Videos der großen TV-Sender genau dokumentiert und durch die vorübergehende Verhaftung prominenter Berichterstatter aus Washington zusätzlich beglaubigt ist, kippt das Pendel. Allenthalben wird die "Militarisierung" der Polizei gegeißelt, die mit ihrer an Kriegseinsätze erinnernden Ausstattung Öl ins Feuer gieße, anstatt die Lage zu beruhigen.

Nachdem sich auch Präsident Obama, der eine unabhängige Untersuchung der Tragödie durch die Bundespolizei FBI und das Justizministerium angeordnet hat, zu einem Rüffel genötigt sah und "exzessive" Polizeieinsätze monierte, reagierte der bis dahin unbeholfen wirkende Gouverneur Jay Nixon: Die Ortspolizei ist aus dem Geschäft. Die Verantwortung hat ab sofort die sonst nur für die Sicherheit auf den Highways zuständige Bundespolizei.

Eine Konzessionsentscheidung mit mutmaßlich geringer Haltbarkeit, solange die Behörden nicht endlich Tacheles reden: Gab es vor den tödlichen Schüssen tatsächlich eine tätliche Konfrontation zwischen Michael Brown und dem unbekannten Officer, wie Polizei-Chef John Belmar behauptet und damit eine Notwehr-Situation seines Untergebenen andeutet?

Oder stimmt, was der wichtigste Zeuge und Wegbegleiter des Opfers, Dorian Johnson (22), gegenüber Journalisten geschildert hat? Danach soll Polizist X die beiden Jugendlichen erst schikaniert ("Geht verdammt noch mal auf den Bürgersteig") und kurz danach den unbewaffneten und mit erhobenen Händen dastehenden Brown mit mehreren Schüssen niedergestreckt haben. Zwischen beiden Darstellungen liegen Ozeane.

Lesley McSpadden, die Mutter von Michael Brown, will Antworten: "Sie haben mir meinen Sohn weggenommen. Wissen Sie eigentlich, wie schwer es für mich war, ihn dazu zu bringen, auf der Schule zu bleiben und seinen Abschluss zu machen?", fragte sie tränenüberströmt in die Fernsehkameras.

Als Rechtsbeistand dient ihr Benjamin L. Crump, der Anwalt der Eltern von Trayvon Martin. Kein gutes Zeichen unbedingt. George Zimmerman, der Mann, der Martin nach einem Handgemenge erschossen hatte, wurde nach monatelangem Prozess aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Käme es diesmal auch so, schließen in Ferguson manche eine Wiederholung der Tumulte von 1992 nicht aus. Nachdem ein Geschworenengericht vier Polizisten, die dem schwarzen Lastwagenfahrer Rodney King beinahe sämtliche Knochen gebrochen hatten, freigesprochen hatte, gingen die Menschen in Los Angeles zu Tausenden auf die Straße. Geschäfte wurden geplündert, Häuser angezündet.

Es gab schwere Schlachten mit der Polizei. Nach einer Woche waren 55 Menschen tot und ein Sachschaden von einer Milliarde Dollar war angerichtet. Eine Vorstellung, die sich für den ersten schwarzen Präsidenten Amerikas wie ein Albtraum anfühlen muss.

Am Freitagabend endlich gab es ein erstes kleines Zeichen der Entspannung: Die Polizei veröffentlichte den Namen des Schützen: Darren Wilson. Maßnahmen gegen den Mann, der seit sechs Jahren für die Polizei von Ferguson arbeitet, wurden weiterhin nicht eingeleitet. Laut dem gestern veröffentlichten Polizeibericht wurde Brown eines Raubüberfalls auf ein Geschäft verdächtigt. Dabei soll er gegenüber dem Verkäufer handgreiflich geworden und eine Packung Zigarren gestohlen haben. Wie es zu den Todesschüssen kam, wurde weiter nicht näher erläutert.

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