Kinderarmut "Noch nie war Aufwachsen so ungerecht"

BONN · Nach einer neuen Studie droht ein Drittel der Kinder den Anschluss zu verlieren. Dabei steht dort auch: "Noch nie ging es Kindern und Jugendlichen so gut wie heute." Ein Satz, der positiv stimmt. Eigentlich.

Er stammt von Karin Böllert, der Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ). Ihre Organisation hat eine Studie veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass knapp 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit guter Bildung aufwachsen und optimistisch in die Zukunft blicken. Die Quote der Schulabbrecher nimmt ab und steht bei zehn Prozent. Die Ausgaben für Kinder- und Jugendhilfe haben die Rekordsumme von 32,2 Milliarden Euro bundesweit erreicht (siehe Grafik). Grundlage sind amtliche Daten der vergangenen 20 Jahre.

"Doch leider ist diese positive Entwicklung nur eine Seite der Medaille", sagte Böllert dem GA. Denn: "Noch nie war das Aufwachsen so ungerecht wie heute." Ein knappes Drittel der Kinder in Deutschland drohe abgehängt zu werden. Die Gründe dafür seien oft im Elternhaus zu suchen: geringer Bildungsstand, Arbeitslosigkeit oder drohende Armut. Letzteres trifft der Studie zufolge besonders auf Kinder von Alleinerziehenden (38 Prozent) und mit Migrationshintergrund (30 Prozent) zu.

"Je früher und länger ein Kind Armutserfahrungen macht, desto prägender wird diese Erfahrung für sein gesamtes Leben", sagt Böllert. Und genau da sei die Kinder- und Jugendhilfe gefordert. Diese dürfe nicht von kommunaler Haushaltslage abhängig sein. "Kinder brauchen Bildungs- und Erziehungsangebote schon in der Kita, um nicht sofort den Anschluss zu verlieren", mahnt Böllert, die den Ausbau der Kitas und Ganztagsschulen fordert. Die Hochschulprofessorin steht an der Spitze eines Interessenverbandes, der sich für das Wohl von allen jungen Menschen unter 27 Jahren einsetzt und Hunderte öffentliche und freie Träger vertritt.

Was es heißt, wenn Familien die Voraussetzungen fehlen, um Kindern eine Zukunftsperspektive zu bieten, weiß Wolfgang Hüttermann sehr genau. Er leitet das Jugendzentrum "Uns Huus" an der Mackestraße in der Bonner Nordstadt. Es wird von der Caritas getragen. "Uns Huus" liegt gleich gegenüber der Bonner Tafel und ist umringt von einer ehemaligen Arbeitersiedlung. "Wir haben hier die klassischen Probleme: Hartz IV, Sucht, Gewalt. Dazu kommen viele Alleinerziehende", sagt Hüttermann. Zu seiner Klientel zählen die "Bildungsverlierer". Das Dilemma: "Die Familien, die keine Sozialleistungen beziehen, halten sich mit mehreren Jobs über Wasser. Die haben kaum Zeit für ihre Kinder. Die anderen sind oft zufrieden mit dem, was sie haben und kümmern sich auch oft nicht um ihre Kinder."

Viele der Jugendlichen, die das Jugendzentrum besuchen, gehen zur Hauptschule St. Hedwig. "Sie fühlen sich stigmatisiert und denken, aus ihnen werde eh nichts", sagt Hüttermann. Er hat auch schon erlebt, dass Ausbildungsplätze nur wegen einer Anschrift im Viertel verweigert wurden. Sein Urteil: "Mir kann keiner erzählen, dass es hier Chancengleichheit gibt." Hüttermann hat aber auch beobachtet, dass Förderungsmaßnahmen zugenommen haben. Dazu gehören auch Hausbesuche bei Eltern. Böllert: "Wir wollen sie an die Hand nehmen und Hilfe anbieten. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, dass die Schere noch weiter auseinandergeht."

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